Zwielichtlande: Schattenmann (German Edition)
…
Talia schüttelte den Kopf. »Nein.« Sie zog sich zur Tür zurück. »Aber für mich schon.«
Geh nicht. Noch nicht.
Layla stand auf, um sie aufzuhalten.
Doch Talia hatte bereits die Hand auf die Klinke gelegt. »Jetzt wirst du heute Nacht bestimmt nicht mehr schlafen.«
»Was soll ich tun?« Nach dem heutigen Tag konnte sie unmöglich in ihr altes Leben zurückkehren. Zuvor war sie einsam gewesen, jetzt fühlte sie sich völlig verloren.
»Tun? Du stehst mit deinem Artikel noch ganz am Anfang. Ich helfe dir bei deinen Recherchen. Ich habe selbst etwas über das Thema geschrieben. Die Geister sind ein guter Ausgangspunkt, um den Rest zu verstehen.«
Geister. Richtig. Es ging zwar alles drunter und drüber, doch ihr Artikel hatte nicht an Bedeutung verloren. Als letztes vielleicht. Es gab einiges zu tun. Sie musste über einen Krieg berichten.
Okay. Recherche klang gut. Die Sache mit der Reisenden … Talia, Khan … über all das würde sie später nachdenken. Das überforderte sie jetzt. Die Verwirrung. Der Druck in ihrer Brust.
»Versuch, zur Ruhe zu kommen, wenn du kannst. Es wird sich alles fügen.« Talia öffnete die Tür, wischte sich dabei kurz über die Augen und schlüpfte hinaus. »In der Zwischenzeit: herzlich willkommen in der Familie.«
Mit einem Seufzer der Erleichterung ließen sich Khans Schatten auf seinen Schultern nieder. Er hatte Segue vor dem Teufel erreicht. Hier herrschte weiterhin Sicherheit. Laylas Herz schlug gleichmäßig und stark. Alles war in Ordnung.
Ihnen blieb noch Zeit.
Er versuchte, die vertraute Gestalt anzunehmen, die Kathleen ihm gegeben hatte, doch das gelang ihm nicht. Immer wieder formte er Khans Körper aus den Schatten, doch jedes Mal löste er sich wieder auf. Es war ein aussichtsloses Unterfangen, doch er musste es weiter versuchen.
Er hatte Layla gefunden und sich verloren. In der Sterblichen Welt konnte er nur noch als Tod auftreten. Khan drückte sich in den dunklen Ecken von Laylas Zimmer herum und begnügte sich damit, sie zu beobachten. So wie er Kathleen den Großteil ihres Lebens über beobachtet und auf sie gewartet hatte.
Layla saß unbeweglich in der Mitte des Bettes. Sie hatte die Arme um die Schienbeine geschlungen und das Kinn auf die Knie gestützt. Wie Blütenblätter lagen gelbe Papierchen um sie herum. Feine Unruhe wirbelte durch die Luft, die jedoch nachließ, während sie still nachdachte. Als sie sich aufrichtete, als sei sie zu einer Entscheidung gekommen, verschwand die Unruhe gänzlich. Layla fegte die Notizzettel auf den Boden und beugte sich vor, um die Nachttischlampe auszuschalten. Durch die tiefhängenden Wolken drang kein Mond- oder Sternenlicht auf die Erde, der Raum lag völlig im Dunkeln.
Kathleen. Layla. Beide mutig, beide willensstark. Beide unvorsichtig, wenn es sich am wenigsten empfahl. Beide hatten mit dem Tod zu tun. Und waren dennoch verschieden. Er hatte angenommen, dass allein die Seele den Charakter einer Person bestimmte, aber vielleicht hatte er sich getäuscht. Doch was prägte dann die Persönlichkeit?
Die Engel wussten es, verrieten es den Schattenwesen jedoch nicht. Denn die große Mauer zwischen ihren Reichen war das Relikt eines uralten Krieges zwischen den Gattungen.
Von der tiefen Dunkelheit wie von einem Umhang verborgen, trat Khan näher zu ihr. Er spürte, dass Anspannung und Angst Layla wachhielten. Doch der Schlaf war ein Bruder des Todes, und so erlöste er sie mit einer sanften Berührung.
»Bitte erinnere dich«, flüsterte er, als sie in einen unruhigen Schlummer fiel.
Er folgte ihr hinunter in die Zwielichtlande, wo er sein konnte, was immer er wollte.
Talias Stimme hallte durch Laylas schläfriges Bewusstsein. »Herzlich willkommen in der Familie.«
Doch der Mund, der die Worte formte, gehörte einer dicken Frau, die sie durch die Halle eines Hauses begleitete. »Ich bin Mama Joyce«, fuhr sie lächelnd fort. »Wenn du willst, kannst du mich Mama nennen.«
Um ihren Herzschlag zu beruhigen, presste Layla ihren Rucksack fest an ihre Brust. Sie hasste neue Unterkünfte. Die Frau schien nett zu sein, aber Layla würde sie nicht »Mama« nennen. Ihre Mutter war tot, und außerdem sagten das nur Babys, keine Siebenjährigen. Also Joyce, die wie ihr Name irgendwie fröhlich wirkte.
»Ich habe bislang zwei Kinder mit besonderem Förderbedarf hier.« Layla spürte, wie Joyce ihren weichen Arm um sie legte.
Layla wusste, dass besonderer Förderbedarf bedeutete, »so wie du«. Der Arm
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