Zwielichtlande: Schattenmann (German Edition)
Schnellstraße.
Die Leiche war noch da, die Seele hatte den Körper jedoch bereits verlassen.
Khan ging in die Hocke und untersuchte das Opfer. Mit dem Mord sollte der Mann offenbar schnell unschädlich gemacht werden. Im Bauch klafften vier lange Krater wie von einer Bärentatze. Das Blut auf dem Bauch war geronnen, auf dem Boden unter ihm sammelte sich eine rote Lache. Am Straßenrand parkte schräg ein Wagen. Rost und Beulen passten nicht zu dem Toten, der Mann wirkte wohlhabend. Khan vermutete, dass dem Teufel der Wagen des Opfers besser gefallen und er ihn kurzerhand gestohlen hatte.
Doch wohin war er gefahren?
In der Ferne erhob sich eine Bergkette. Auf einem grünen Straßenschild stand WEST VIRGINIA TURNPIKE . Da wusste Khan Bescheid. Natürlich. Wohin sollte er schon wollen? Wer zog ihn unwiderstehlich an?
Segue. Und Layla, die ihn befreit hatte.
Layla saß auf dem Bett. Die noch unberührte Decke war mit zahlreichen Klebezetteln übersät, die sie in der Nachttischschublade gefunden und mit Notizen beschrieben hatte. Der elegante Digitalwecker neben dem Bett zeigte die Uhrzeit an: 01:12 Uhr, doch sie konnte auf keinen Fall schlafen. Wegen dieses Gespenstermädchens fand sie vermutlich nie mehr in den Schlaf, und Custos kryptische Warnung tat ihr Übriges.
Sie fühlte sich der Situation nicht gewachsen. Khan hatte ihr Antworten versprochen, doch bei den zahlreichen Mysterien in Segue konnte sich das leicht zu einer Lebensaufgabe entwickeln.
Es gab kein Zurück mehr. Wie konnte sie mit dem Wissen leben, dass das nächtliche Geschehen womöglich real gewesen war? Dass ihre Visionen real waren? Sie würde in ständiger Angst leben. Bei allem, was sie wusste, konnte sie sich unmöglich vorstellen, in ihre Wohnung zurückzukehren, Ty zu heiraten und Kinder zu bekommen. Ein solches Leben schien ihr jetzt unvorstellbar.
Sie musste hier bleiben. Sie konnte weder das Gebäude noch die Leute oder die Magie einfach verdrängen. Die entscheidende Frage lautete nun, wie sie in dieses Gefüge passte.
Auf den verstreuten Notizzetteln hatte sie die »Fakten« gesammelt. Es gefiel ihr, dass ihr System keiner Ordnung folgte. Anders als ordentliche Reihen und Kategorien führte die zufällige Lage ihrer Notizen zu überraschenden Verbindungen. Gerade lag »gemeines Gespenstermädchen« neben »superscharfer Khan«. Wieso hasste das Gespenst sie so sehr? Nördlich davon befand sich ein Zettel mit »Talia«, von der Khan behauptete, sie habe den Schöpfer der Geister umgebracht. Doch hatte er in dem Lagerhaus nicht gesagt, dass er ganz allein die Verantwortung für die Geisterepidemie trage? Das ergab keinen Sinn. Sie sortierte die Notizen neu. Legte »Khan« neben »Custo«. Na, das war eine Combo. Konnte Custo Khans Gedanken lesen? Etwas sagte ihr, dass Custo es lieber nicht versuchen sollte.
Als ein leises Klopfen ertönte, zerknüllte Layla die Notiz in ihrer Hand. Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Sie hielt den Atem an. Noch mehr konnte sie heute nicht verkraften.
Wieder klopfte es. Immer noch leise. Zaghaft.
Jemand stand vor der Tür. Ein Gespenst gab sich nicht die Mühe zu klopfen, ein Geist würde hereinplatzen, und Khan träte einfach aus den Schatten hervor.
Layla blickte zum Wecker: 01:23 Uhr. Offensichtlich herrschten an diesem seltsamen Ort ungewöhnliche Tagesabläufe. Sie krabbelte aus dem Bett, verteilte dabei die Notizzettel auf dem Boden und schlich auf Zehenspitzen in das kleine Wohnzimmer ihrer Suite. Alles ruhig. Das Ein-Zimmer-Appartement gefiel ihr – Kamin, Flachbildfernseher, bequeme Sofas in warmen, einladenden Farben. Es bot jeglichen Komfort, dennoch kam sie nicht zur Ruhe.
Sie näherte sich der Tür und spähte durch den Spion. Verzerrt sah sie eine weibliche Gestalt mit einem weißblonden Pferdeschwanz den Flur hinuntergehen.
Das musste Talia sein.
Layla riss die Tür auf.
Talia drehte sich um. Sie befand sich bereits auf halbem Weg zum Fahrstuhl. »Es tut mir sehr leid, wenn ich Sie geweckt habe.«
Ihr Stimme entsprach ihrem Klopfen: sanft, vorsichtig, freundlich. Layla schüttelte den Kopf, um zu sagen Nein, ich war noch wach , doch ihre zugeschnürte Kehle machte das Sprechen unmöglich. Die nächtliche Stille des Flurs rauschte in ihren Ohren. Ihr Blick verschwamm ob dieser unwirklichen Erscheinung. Talia .
»Ich habe Licht gesehen und dachte, vielleicht … «
Layla konnte lediglich nicken. Ja, jederzeit. Ich wollte schon so lange mit Ihnen sprechen.
Talia kam näher,
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