Zwielichtlande: Schattenmann (German Edition)
lastete schwer auf ihren Schultern, genau wie das Wort Schizophrenie , das sie von Kinderheim zu Kinderheim begleitete. Layla konnte noch nicht lesen (zu dumm), doch dieses Wort kannte sie. Schizophrenie hieß, dass sie Sachen sah, die nicht existierten. Dass sie nicht zwischen der Realität und dem, was bloß »in ihrem Kopf« geschah, unterscheiden konnte. Was keinen Sinn ergab, denn was sie sah, befand sich nicht in ihrem Kopf.
»Hier bist du sicher«, erklärte Joyce, während sie eine Tür aufstieß. In der freien Hand trug sie eine Plastiktasche mit Laylas neuen Medikamenten, die ihr ein Sozialarbeiter überreicht hatte. Der Arzt »probiert etwas Neues«. Doch die Art, wie er das gesagt hatte, verursachte Layla Bauchschmerzen. Als sei er nach der letzten »Episode« verunsichert.
»Micah und Jonathan sind bereits eine ganze Weile bei mir«, fuhr Joyce fort, »und sie machen sich prächtig.«
Einer von ihnen saß in einem komischen liegeähnlichen Rollstuhl. An dem Körper des Jungen wirkte alles verkehrt. Sein Mund war verzerrt, als versuche er, ein großes Geheimnis zu verraten. Der andere Junge kniete auf dem Boden und schaukelte unablässig mit dem Körper vor und zurück, während er vor sich hinmurmelte: Toter Mann, toter Mann, steh auf . Es handelte sich um einen Reim. Layla kannte ihn, wusste jedoch nicht, woher. Der Raum war sauber. Der Geruch okay. Im Fernsehen lief leise eine Kindersendung. Ganz anders als im letzten Heim.
Laylas Sozialarbeiter hatte ihr erklärt, dass Joyce die Welt retten wollte, ein Kind nach dem anderen.
Irgendjemand musste die Welt retten. Überall drückten sich dunkle Gestalten in den Schatten herum und versuchten zu entkommen. Des Nachts wuchsen die Schatten, und die dunklen Gestalten verfolgten sie. Sie kratzten mit ihren langen kalten Fingern an ihrer Haut, rissen an ihren Haaren und flüsterten böse Worte in ihr Ohr – sollte tot sein, schon tot – , so dass sie sich manchmal auf dem Boden zusammenrollte und unablässig schaukelte, genau wie dieser Junge. Eines Tages würden die dunklen Gestalten einen Weg aus den Schatten finden und dann, tja, galt es, die Welt zu retten.
Der Arzt nannte es Paranoia und behauptete, dass ihr nichts etwas anhaben könne. Doch wenn die dunklen Gestalten an ihren Haaren zogen, tat das sehr wohl weh. Egal was die anderen behaupteten, sie riss sich nicht selbst die Haare aus.
Erwachsene glaubten ihr nicht, und sie glaubte ihnen nicht. Deshalb hatte sie das Messer gestohlen. Sie konnte auf sich selbst aufpassen.
Laylas Blick glitt durch den Raum und stoppte. Da.
Sie erstarrte, ihr fröstelte, und sie drückte den Rucksack noch fester an sich. Joyce erzählte etwas über die Jungen, doch sie hatte nicht zugehört. Ihr Herz schlug zu laut, und sie bekam nicht richtig Luft.
Denn eine der dunklen Gestalten befand sich genau … dort … drüben. In dem großen Schattendreieck aus Lampe und Stuhl.
Das bedeutete, dass die dunklen Gestalten sich auch hier, in Joyces nettem Haus, aufhielten. Die dunklen Gestalten kamen überallhin.
Die langen Haare des Schattenmanns glänzten wie ein dichter Wasserfall. Er hockte in der tiefen Dunkelheit und beobachtete sie. Aus seinen schräg stehenden Augen sprach keine gemeine Bosheit. Er wirkte traurig.
»Was ist hier passiert, Layla? Zeigst du es mir?«
Der Traum verwandelte sich in ein Kaleidoskop aus Farben und verdunkelte sich. Wände fielen ein, verschoben sich und richteten sich erneut auf. Schließlich befand sich Layla in einem Schlafzimmer, presste immer noch ihren Rucksack an sich, trug nun jedoch ein Nachthemd. Die Kälte kroch ihre Waden hinauf. Das zerwühlte, über und über mit Prinzessinnen bedruckte Bettzeug wirkte albern. Niemand wurde je wirklich zur Prinzessin. Ein neuer Teddybär, den Joyce extra für sie besorgt hatte, saß auf einem Kinderschreibtisch.
» Ich dachte, sie sei nicht gewalttätig«, sagte Joyce in weiter Ferne. »Ich kann ein gewalttätiges Kind nicht zusammen mit einem autistischen unterbringen. Er macht so gute Fortschritte. Ich kann unmöglich beiden helfen.«
Nein, das stimmte nicht. Das hatte Mama Joyce später gesagt. Nach dem Blut.
Im Raum herrschte unheimliche Stille, und Layla versuchte, leiser zu atmen. Wie immer, wenn die Schatten kamen, begann ihr Herz zu rasen, als wollte es flüchten, doch es war gefangen, genau wie sie.
Laylas Hals schmerzte, sie wollte um Hilfe rufen, biss sich jedoch auf die Lippen. Im letzten Heim hatte man sie für ihr
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