Zwielichtlande
Verzweifelt raufte sich Custo die Haare. Er wusste nicht, wem er trauen konnte.
8
Custo unterdrückte ein Lächeln, als Annabella mehrfach »Wo seid ihr langen Dinger« vor sich hersummte, während sie ihr winziges Badezimmer auseinandernahm.
Lange Dinger ? In Ordnung … aber er hielt sich zurück und sagte nicht, dass er für jeden noch so ungewöhnlichen sexuellen Fetisch von ihr offen wäre, und musterte stattdessen mit großem Interesse ihre Wohnung. Er wollte alles über sie erfahren.
In der kleinen Wohnung stand überall bunter Krimskrams.Hinter ihm befand sich die Küchenzeile mit einem aufgeräumten Spülbecken und einem kleinen Kühlschrank unterhalb der Arbeitsplatte. Auf der anderen Seite der Spüle drängten sich eine Kaffeemaschine und eine Herdplatte aneinander. An einer Wand stand ein ausgeklappter Futon, das Laken hatte sich um eine bunte Patchworkdecke gewickelt, die noch die Schlafstellung ihres Körpers erahnen ließ. Überall lagen knallrote, grüne und blaue Kissen herum, manche mit kitschigen Troddeln, und in einer Ecke stand ein kleines altes TV - DVD -Kombigerät. Überall war Kleidung verstreut, die meiste stapelte sich jedoch auf einem der beiden Stühle. Es roch süß und weiblich, ohne dass ein Duft besonders hervorstach.
Auf jeder freien Fläche standen gerahmte Fotos, deren Scheiben in dem hereinfallenden Sonnenschein glitzerten. Eine Fotografie zeigte Annabella mit einer Frau mittleren Alters und einem jungen Mann in einem Talar. Die drei sahen sich ähnlich und die Art, wie sie sich gegenseitig an den Schultern hielten und versuchten, mit den Gesichtern einen Platz auf dem Foto zu ergattern, verriet Custo, dass es sich um ihre Familie handelte.
Zum ersten Mal seit Jahren spürte er einen Anflug von Eifersucht. So hatte er empfunden, wenn die anderen Jungen in der Schule von den Ferien mit ihren Familien berichtet hatten und er anschließend voll Bitterkeit gewesen war. Nicht, dass er Annabella um ihre Familie beneidete, weil er keine hatte. Nein, er wollte mit auf dem Foto sein, wollte sie eines Tages in den Armen halten und mit ihr vor einer Kamera posieren.
Halt . Dennoch spürte er die kalte heftige Sehnsucht in sich. Es würde keine Fotos geben. Ihre Beziehung konnte sich unmöglich so entwickeln. Bereits vor langer Zeit hatte er gelernt, dass Träumereien die Realität nur noch unerträglicher machten.
»Ja!«, schrie Annabella. Er drehte sich um, als sie mit einem kleinen Päckchen in der Hand herumwedelte; es handelte sich um spinnenartige falsche Wimpern. Als ob ihre Wimpern das nötig hätten. »Jetzt bringe ich nur noch schnell den Müll an das Ende des Flurs, dann können wir los.«
»Das übernehme ich«, sagte er. Solange er da war, musste sie nicht den Müll hinaustragen.
»Nein, nein, das mache ich schon selbst. Aber kannst du … ähm … von der Tür aus aufpassen?«
Natürlich tat er das; bis sie außer Gefahr war, würde er sie nicht mehr aus den Augen lassen. Er hätte sie den Flur hinunter begleitet, aber das Funkgerät in seinem Ohr piepte. Also ließ er sie allein mit der Plastiktüte den Gang hinunterlaufen, um sie nicht mit den Sicherheitsvorkehrungen für die Abendvorstellung zu behelligen.
Der Plan war einfach, aber überzeugend: Annabella sollte tanzen und den Weg für die Rückkehr des Wolfes ins Jenseits freimachen, ganz so wie er es wollte. Agenten aus Segue würden im Publikum sitzen, sich hinter der Bühne befinden und das Gebäude umstellen. Außerdem gab es einen Notrettungsplan für Annabella, falls irgendetwas schiefgehen sollte. Die Angestellten des City Centers waren über die als Bühnenarbeiter verkleideten Sicherheitsbeamten informiert und zeigten sich kooperativ. Custo würde neben der Bühne stehen und bereit sein, dem Wolf einen zusätzlichen Stoß zu geben, sollte Annabella wieder sein Interesse auf sich ziehen.
»Custo hier«, meldete er sich.
»Wir sind vor Ort«, erklärte Jens. »Der Bühnenbereich ist gesichert. Siebzehn Agenten haben Karten für die Vorstellung heute Abend.«
Custo stand im Eingang der Wohnung, während Annabella den Flur hinunterlief. Als sie um die Ecke bog, beugte er sich hinaus. Er hörte das metallische Scheppern des Müllereimerdeckels, dann kam sie zurück. Sie hob einen Finger, formte mit den Lippen lautlos die Worte »eine Minute« und klopfte an die Nachbartür.
Er nickte ihr zu und sprach weiter mit Jens. »Ich will, dass der Ablauf hinter der Bühne so wenig wie möglich beeinträchtigt
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