Zwielichtlande
fahre ich wahrscheinlich zu meiner Mutter.« Eine Lüge, aber das ging Peter nichts an.
»Nach der Vorstellung?«
»Ja.« Das musste er doch wissen; sie sprach seit geraumer Zeit von nichts anderem mehr. »Heute ist der große Abend. Mein Traum geht in Erfüllung. Ich tanze die Giselle am klassischen Ballettheater.« Sie trat zurück, um die Unterhaltung zu beenden. Sie musste jetzt wirklich gehen.
»Tanzen ist dein Traum?« Er beugte sich vor, um ihr zu folgen, wich jedoch mit einem Zischen zurück.
»Du kennst mich doch.« Sie zuckte mit den Schultern und trat noch einen Schritt zurück. Und noch einen. »Tanzen, tanzen, tanzen.«
»Ich werde da sein«, sagte er.
Oh, nein . Sie konnte wirklich nicht noch mehr Stress gebrauchen. Wenn der arme Peter versuchte, sie zu sehen oder zu ihr zu kommen, würde Custo vermutlich mit ihm den Boden aufwischen.
»Ich fürchte, die Vorstellung ist ausverkauft«, erwiderte sie und drehte sich zu ihrer Wohnung um.
»Es ist dein Traum«, wiederholte Peter in ihrem Rücken. »Ich werde da sein.«
Custo sprang am Eingang des City Centers an der 56. Straße aus einem Geländewagen und griff nach Annabella, die ebenfalls ausstieg. Er nahm ihren Werkzeugkasten, den sie zum Schminkkasten umfunktioniert hatte. Sie trug Jeans und eine smaragdgrüne Cabanjacke, um den Hals hatte sie einen grauen Wollschal geschlungen, über ihrer Schulter hing eine schwere Tasche. Die Haare hatte sie zu einem straffen Pferdeschwanz zurückgekämmt, der ihre durchscheinende Haut und ihre schönen Augen betonte und sie wie einen Teenager aussehen ließ. Durch die Aufregung waren ihre Wangen leicht gerötet. Die Luft um sie herum knisterte vor Energie.
»Ich bin spät dran«, sagte sie, grinste jedoch.
Sie war Stunden zu früh. Wenn sie sich Sorgen um die Zeit machte, schien sie ziemlich nervös zu sein. »Du musst nur tanzen, das ist alles«, erklärte Custo. »Ich stehe direkt neben der Bühne und lasse dich keine Sekunde aus den Augen. Alles wird gut.«
»Es muss perfekt sein«, korrigierte sie und schritt auf die Tür zu.
Hinter ihr warf Custo die Wagentür zu und schlug mit der flachen Hand auf das Dach, um dem Fahrer zu signalisieren, dass er losfahren konnte. Andere Fahrzeuge aus Segue parkten auf der Straße, aber offenbar hatte Adam bislang nicht von der Regierungserlaubnis Gebrauch gemacht, den Block zu sperren. Wenn alles nach Plan lief, war das nicht nötig.
Custo folgte Annabella, aber ein prickelndes Gefühl veranlasste ihn, sich umzudrehen.
Luca. Custo hatte den Engel zum letzten Mal gesehen, als er sich noch einmal zum Himmelstor umgesehen hatte, kurz bevor er in das Wasser getaucht und in die Zwielichtlande geflohen war. Jetzt stand Luca auf der anderen Straßenseite. Er war gekommen, um ihn zurückzuholen oder schlimmer.
Durch den fließenden Verkehr auf der 56. Straße begegnete Custo Lucas Blick und hielt ihm stand. Für einen Augenblick versank die Welt um ihn herum; es existierten nur noch Custos wild schlagendes Herz und Annabella, die mit den Gedanken ganz bei ihrem Tanz war.
Eine Nacht , flehte Custo. Er ballte die Hände zu Fäusten, um nicht die Beherrschung zu verlieren. Er konnte Annabella jetzt nicht verlassen.
Obwohl Luca genau wie Custo in der Lage war, Gedanken zu lesen, blieb seine Miene unverändert hart.
Eine Nacht. Das ist alles, worum ich dich bitte. Ich muss ihr helfen.
Luca runzelte die Stirn. Du hast nichts begriffen.
Die Gedanken von Engeln waren so viel einfacher zu entschlüsseln als die von Sterblichen – sie waren klar, aufgeräumt und entschieden.
Eine Nacht , wiederholte Custo. Er wartete die Antwort gar nicht erst ab – für ihn stand ohnehin fest, dass er blieb. Als er sich von Luca abwandte und sich seinem Blick entzog, war es, als bekäme das Universum einen Riss, als würde Custo sich daraus lösen und kopfüber in seine eigene Dunkelheit stürzen.
Na, dann . Custo verdoppelte das Tempo, um Annabella einzuholen, die gerade eine der Messingtüren des Gebäudes öffnete. Er spürte Lucas Blick in seinem Rücken, seine Verdammung rollte über die Straße. Okay, Luca durfte ihn für immer bestrafen, aber später. Erst am Ende dieses Abends. Bis der Wolf zurück im Schattenreich war, wich er nicht von Annabellas Seite. Diese Vorstellung musste ein Erfolg werden.
Und danach? Annabella musste lernen, die Magie genauso gut zu beherrschen wie ihren Tanz. Talia konnte es ihr nach der Geburt der Babys beibringen. Aber er wollte sie so nicht
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