Zwielichtlande
Wagen einfach auf der Straße stehen gelassen hatte, trat sie auf dem Bürgersteig zu ihm. Was immer sie vorhatten, es musste wirklich wichtig sein, wenn sie nicht einmal die Zeit hatten, anständig zu parken. Ein Taxi hupte wütend, weil es nicht vorbeikam.
Custo und Adam schienen jedoch ganz damit beschäftigt zu sein, eine Adresse zu suchen. Annabella blickte fortwährend über ihre Schulter, mal zu einem Schatten an einer Gasse, oder in die schwarzen Augen eines Fußgängers, mal zu einem plötzlich aufheulenden Müllwagen. Obwohl helllichter Tag war, fing sie erneut an zu zittern.
Wenn es so etwas wie weibliche Intuition gab, und die gruseligen Ereignisse der letzten Zeit sprachen dafür, wurden sie beobachtet. Es musste Wolf sein. Er verfolgte sie. Schlich hinter ihr her.
»Hier entlang«, sagte Custo, das Gesicht mit grimmiger Ehrfurcht zum Himmel gerichtet, was sie extrem irritierte; ihr Magen krampfte sich zusammen.
Er führte sie zu einer schmutzigen Gasse, zu dunkel, um sie sich darin sicher zu fühlen. Irgendjemand Lust auf Wolf?
»Custo?«, fragte Adam.
Custo holte tief Luft. »Siehst du es nicht?«
»Was?«, fragte diesmal Annabella.
»Ich sehe einen Turm«, erklärte er, »einen schmalen Obelisken, der wie ein Dolch in den Himmel ragt. Die Fassade ist aus einer Art weißem Marmor, das anscheinend das Tageslicht absorbiert. Es gibt keine Fenster, lediglich ganz oben befinden sich zwei dunkle Schlitze wie bei einer mittelalterlichen Burg.«
Custo blickte zu ihnen herüber.
Sie zuckte mit den Schultern. Nein, sie sah nichts. Und die Leute fingen an, sie anzustarren.
»Nun, ihr kommt beide mit mir«, erklärte er.
Custo packte ihren einen Arm, Adam nahm den anderen. Mit der freien Hand schien Custo die Klinke einer imaginären Tür herunterzudrücken. Gemeinsam mit ihm trat sie vom Bürgersteig in eine strahlend helle Halle. Der Wechsel kam plötzlich und abrupt. Sie taumelte und griff nach den Händen der Männer, um ihr Gleichgewicht wiederzufinden, aber die Schwerkraft schien aus sehr ungewöhnlichen Winkeln an ihr zu ziehen. Vereinzelt hörte sie noch die Geräusche der Stadt – den Verkehr, das gelegentliche Bob Bob von Musik und Gesprächsfetzen – , aber sie klangen verzerrt. Die Halle erstrahlte so hell, dass sie nur mit Anstrengung etwas erkennen konnte. Sie versuchte, in dem strahlenden Nebel Tiefe und Begrenzungen auszumachen.
»Sie können hier nicht herein«, erklärte eine männliche Stimme. Im einen Augenblick gehörte die Stimme noch zu einem farbigen Fleck in der Ferne, im nächsten stand der Besitzer direkt vor ihnen. Ein großer, etwas schlaksiger Mann mit dunklen Haaren und schwarzen Augen, gekleidet in Jeans und ein weißes T-Shirt. Mit seinem durchtrainierten Oberkörper konnte er es sich erlauben, etwas engere Kleidung zu tragen.
»Verstößt du gegen alle Regeln, Custo?«, fragte der Mann mit einem wissenden Lächeln.
Als Custo nichts erwiderte, wandte der Mann seine Aufmerksamkeit ihr zu. Er wirkte lediglich höflich interessiert, durchbohrte sie jedoch mit seinem Blick. Dann streckte er ihr die Hand entgegen, und Annabella ergriff sie aus reiner Gewohnheit.
»Ich bin Luca«, stellte er sich vor. »Custos Urgroßonkel. Man sollte doch annehmen, dass er mehr auf einen älteren Verwandten hört.«
Sie konnte keine große Ähnlichkeit zwischen den beiden erkennen. Ihre Haarfarbe, ihr Körperbau und ihre Haltung waren grundverschieden. Und Luca versuchte charmant zu sein, eine Eigenschaft, die sie Custo erst noch beibringen musste.
»Ich bin doch jetzt hier, oder nicht?«, unterbrach Custo. Das war ein typisches Beispiel.
Luca ging weiter zu Adam, der seine ausgestreckte Hand ergriff und sie herzlich schüttelte. »Adam Thorne.«
Luca neigte den Kopf, trat zurück und wandte sich an alle, wobei er entschuldigend die Hände hob. »Es tut mir leid. Annabella und Adam, der Zutritt zum Turm ist euch leider nicht gestattet.«
Er will uns einfach vor die Tür setzen? In Erwartung einer Reaktion blickte Annabella zu Custo. Als er nichts sagte, blickte sie wieder zu Luca.
»Ich verstehe den Punkt«, erwiderte Luca.
Welchen Punkt? Hatte jemand etwas gesagt? Die Nebelschleier wirkten sich offenbar auf ihr Gehirn aus.
Auch Adams versteinerte Miene schien verwirrt, weshalb sie sich nicht ganz so albern vorkam.
Luca zuckte mit den Schultern in Custos Richtung. »Nun, jetzt sind sie schon so weit gekommen; ich wüsste nicht, wieso sie nicht hier warten sollten, während
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