Zwienacht (German Edition)
Armbanduhr. „Hätten Sie Lust auf einen Besuch bei Frau Ahrens? Etwas Abwechslung tut Ihnen sicher gut. Sie ist eine nette alte Dame.“
„Gut“, stimmte er zu und ertappte sich dabei, wie er automatisch überprüfte, ob er auch wirklich nicht auf die Toilette musste. Vorsichtshalber hatte er seinen Kaffee gar nicht angerührt.
Die rauchende Frau
Vor der Wohnungstür im zweiten Stock hielt Maria kurz inne. „Ich sollte Ihnen wohl noch sagen, dass Frau Ahrens an einer relativ leichten Form von Demenz leidet.“
„Wie äußert die sich?“, fragte Richard, während Maria den passenden Wohnungsschlüssel an ihrem Bund suchte.
„Die meiste Zeit ist sie völlig normal, nur manchmal bringt sie die Zeiten durcheinander und glaubt, dass der Krieg noch nicht zu Ende sei. Oder sie kann Einbildung nicht von Realität unterscheiden.“
Damit sind wir wohl schon zu zweit in diesem Haus, überlegte Richard und sagte: „Das ist kein Problem für mich.“
„Das dachte ich mir.“ Maria lächelte ihn an. „Dann wird es Sie sicher auch nicht stören, dass Frau Ahrens häufig Selbstgespräche führt. Das kann manchmal etwas verwirrend sein.“
Die Wohnung hatte dieselbe Größe und Raumaufteilung wie Richards und doch wirkte sie kleiner und enger. Das mochte daran liegen, dass sie mit Möbeln – Beistelltischchen mit gehäkelten Decken, Glasvitrinen mit Nippesfiguren und gerahmten Fotos, einem Sekretär, der unter Zeitschriftenstapeln nahezu begraben war – vollgestopft war. Zusätzlich schienen die Wände mit ihren Tapeten in dunklen Braun- und Grüntönen auf den Betrachter zuzurücken.
Richard konnte die alte Frau schon hören, verstand allerdings nur Fragmente, von dem, was sie sagte. Scheinbar ging es um irgendwelche Verwandte.
Maria zuckte mit den Schultern. „Tja, sie spricht mal wieder mit sich selbst.“
Die alte Frau verstummte, als hätte sie Maria gehört.
„Ich bin es: Maria!“, rief die Portugiesin laut. „Ich habe Ihren Nachbarn, den Herrn Gerling, mitgebracht!“
„Wie schön!“ Frau Ahrens klang erstaunlich rüstig, aber als Richard hinter Maria das Wohnzimmer betrat, stellte er fest, dass die Stimme in einem erheblichen Widerspruch zur körperlichen Verfassung der alten Dame stand. Richards Nachbarin war eine spindeldürre, fast haarlose Greisin. Sie saß in einem Ohrensessel am Fenster. Im Licht des Tages schien ihre Haut fast durchscheinend. Die Augen der alten Frau leuchteten auf, als sie Richard erblickte. Sie lehnte sich mit einem leisen Ächzer vor und streckte ihrem Besucher eine pergamentartige Kralle entgegen.
Richard zog den Kopf ein, um sich nicht an dem viel zu tief hängenden Deckenleuchter aus Messing zu stoßen. Er ergriff vorsichtig ihre Hand, die sich völlig gewichtslos anfühlte. Der Orientteppich unter seinen Schuhen verschluckte jeden Schritt und gab ihm das Gefühl über weichen, nachgiebigen Waldboden zu gehen.
„Wie geht es Ihnen?“, fragte Richard, weil ihm nichts Besseres einfiel.
„Nicht beschissener als gestern“, erwiderte die Frau und kicherte.
„Frau Ahrens! Bitte!“ Maria drohte mit dem Zeigefinger. „Wenn Sie sich nicht benehmen, muss ich Herrn Gerling wieder wegschicken.“
„Ach was!“ Die alte Frau deutete auf einen Stuhl. „Setzen Sie sich, junger Mann.“
Maria warf den beiden noch einen skeptischen Blick zu und verschwand dann in der Küche. Richard hörte, wie sie dort Schränke und Schubladen öffnete und mit Geschirr klapperte.
Frau Ahrens kramte eine zerknitterte Zigarettenschachtel aus ihrem Bademantel hervor und zündete sich eine filterlose Zigarette an. Sie inhalierte tief und blies den Rauch zur Decke, wo er sich wie Spinnweben um den Leuchter wand.
„Ich brauche Ihnen wohl keine anbieten“, sagte sie zwischen zwei Zügen. „Ich kann riechen, dass sie Nichtraucher sind.“
„Stimmt“, sagte Richard. Sein Blick wanderte zu dem Klavier an der Wand. Er hatte sie nie darauf spielen hören. Vermutlich ließ ihre Verfassung das nicht mehr zu. Auch auf dem Klavier standen mehrere gerahmte Fotos. Eine der abgebildeten Personen – ein amüsiert lächelnder Mann in einem Ledermantel – kam ihm bekannt vor.
„Ah“, machte Frau Ahrens. „Sie haben ihn erkannt.“
„Das ist Bertolt Brecht“, stellte Richard fest.
Die Frau drückte die Zigarettenkippe in dem überfüllten Aschenbecher auf der Sessellehne aus. „1950 war ich kurze Zeit in seinem Berliner Ensemble.“
„Sie waren Schauspielerin?“ Richard erhob sich
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