Zwienacht (German Edition)
Sorgen. Ich erlöste die Schwachen, die nicht mehr wert als ein Sandkorn waren, aus den Fängen eines Daseins, das sie nicht bewältigen konnten. Sie waren dem Irrtum erlegen, sich ungestraft über die Welt verteilen zu dürfen.
Dieses Fehlverhalten hatte ich zu korrigieren.
Durch mich wurde die Welt stark und rein.
„Ich bin gut!“
Vor mir auf dem Küchentisch lag das geschärfte Rasiermesser und ein vierzig Zentimeter langes Stück Stacheldraht. Vierzig Zentimeter reichten für nahezu jeden Hals aus.
Ich sah an mir hinunter. Deutlich zeichnete sich die Erektion unter meiner Unterhose ab.
Ich war schockiert, nahm den Draht vom Tisch und hastete ins Badezimmer. Entsetzt über die unangemessene Reaktion meiner Körperlichkeit starrte ich in den Spiegel über dem Waschbecken.
Ich legte den Stacheldraht um meinen Hals und zerrte ein wenig an beiden Enden. Die Stacheln durchdrangen die obere Hautschicht. Blut quoll aus winzigen Löchern. Mit dem rechten Zeigefinger drückte ich einen einzelnen Stachel tiefer in meinen Nacken. Dabei beobachtete ich mein Gesicht und stellte zufrieden fest, dass kein Muskel zuckte und die Augen wunderbar klar und ehrlich blickten.
Der lästige Penis erschlaffte.
Ich kehrte zurück in die Küche und studierte die Deutschlandkarte an der Wand.
Welcher Ort sollte heute die Ehre erfahren, vom Reisenden geimpft zu werden?
Ich folgte mit meinem Finger dem Verlauf der Ruhr.
Ein Anruf
Richard erwachte mit dem Nachhall von Gelächter in seinem Schädel.
Hatte er geträumt? Die Voraussetzung für einen Traum war, dass er geschlafen hatte.
Er lag auf der Seite und seine Schulter schmerzte vom Gewicht des eigenen Körpers.
Die Zeiger des Weckers standen auf viertel nach vier. Richard richtete sich so hektisch auf, dass für einen Moment violette und gelbe Punkte vor seinen Augen tanzten.
Er hatte über vier Stunden ohne Unterbrechung geschlafen, noch dazu auf dem Fußboden. Das war ein neuer Rekord. Offensichtlich hatte Dr. Buschs Mittel doch gewirkt. Wenn auch mit überraschend durchschlagender Wirkung.
Richard suchte die Wand ab. Alles war wie zuvor. Während er schlief, hatten die Ratten kein Loch durch die Wand gegraben. Auch die Risse hatten sich nicht verbreitert, aber als Richard tief einatmete, konnte er den schimmeligen Geruch aus der Ruine wahrnehmen. Er musste unbedingt daran denken, die Risse zu verschließen.
Richard ging ins Wohnzimmer und zog nach kurzem Überlegen einen Roman von Scott Smith aus dem Regal. Der Krimi mochte die passende Lektüre sein, um auf den Morgen zu warten.
Er horchte in die Stille hinein und hoffte, dass die Ratten an den Giftködern verreckt waren. Richard schaltete die Stehlampe neben der Couch ein, ließ sich in die abgewetzten Lederpolster sinken und schlug das Buch auf.
Das ist ein echter Fortschritt, überlegte er. Seit Wochen war er nicht mehr dazu in der Lage gewesen, konzentriert zu lesen. Vielleicht würde er bald sogar seinen eigenen Roman weiterschreiben können.
Vier Stunden Schlaf! Übermorgen konnte er Dr. Busch von diesem schnellen Erfolg berichten.
Er las eine halbe Stunde und war beeindruckt von dem ruhigen und doch emotionalen Stil des Autors. Er war sogar so gefesselt, dass er den Harndrang erst spürte, als es schon fast zu spät war. Er sprang auf und auf halbem Weg zur Toilette fühlte er eine feuchte Wärme im Schritt. Richard hatte in die Schlafanzughose gepinkelt. Fluchend rannte er ins Badezimmer. Zum ersten Mal seit der frühen Kindheit hatte er die Kontrolle über seine Blase verloren. Er fühlte sich von seinem eigenen Körper gedemütigt.
Während er duschte, versuchte er sich einzureden, dass so etwas schon mal passieren konnte. Ein kleines Malheur. Mehr nicht. Vielleicht war es auch eine Nebenwirkung von Dr. Buschs homöopathischen Mittel. Er musste das beim nächsten Treffen unbedingt zur Sprache bringen.
Er trocknete sich ab und wollte seine gewohnt nachlässige Alltagskleidung anziehen, entschied sich dann aber für ein weißes Hemd zur Jeans. Schließlich war damit zu rechnen, dass Maria ihm in ein paar Stunden seinen Autoschlüssel vorbeibringen würde.
Richard ging zurück ins Wohnzimmer. Er wollte es nicht wahrhaben, dass der Moment der Entspannung und die Freude über vier Stunden Schlaf wie weggeblasen waren. Vielleicht konnte er einfach wieder das Buch in die Hand nehmen und weiterlesen.
Der Roman von Scott Smith war verschwunden. Er war sich sicher, dass er das Taschenbuch auf die Lehne der
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