Zwienacht (German Edition)
Couch gelegt hatte.
Richard bückte sich und sah unter die Couch, entdeckte aber nur ein paar alte Kartoffelchips und große Staubflocken, die ihn im ersten Moment erschrocken zurückweichen ließen, weil er sie im Halbdunkel für Insekten oder Ratten gehalten hatte.
Er sah sich ratlos im Zimmer um. Auf dem runden Holztisch, der ihn seit seiner Studentenzeit bei allen Umzügen begleitet hatte, stand nur eine leere Packung Salzcracker und ein unbenutzter Metallaschenbecher. Richard hatte sich schon vor Jahren das Rauchen unter großen Mühen abgewöhnt.
Sollte er das Buch mit auf die Toilette genommen haben? So absurd ihm die Vorstellung, er habe sich eingepisst, ohne den Scott Smith-Roman aus der Hand zu legen, auch vorkam; er ging ins Badezimmer und suchte anschließend auch noch die Küche ab, obwohl er die nach seinem Wachwerden gar nicht betreten hatte.
Unter anderen Umständen hätte ihn ein Buch, das er verlegt hatte, nicht weiter beunruhigt, aber in seinem jetzigen Zustand glaubte er darin ein weiteres Vorzeichen auf seine geistige Verwirrung zu sehen.
In seiner Kindheit war es öfters passiert, dass ein Spielzeug, das eben noch auf der Spitze eines Sandhügels oder in einer Ecke seines Kinderzimmers gelegen hatte, plötzlich wie vom Erdboden verschluckt schien. Aber dafür gab es eine einfache Erklärung: Ein Kind hat tausend Ideen auf einmal im Kopf, macht ein Dutzend Dinge gleichzeitig und bemerkt überhaupt manchmal gar nicht, wenn es ein Ding von einem Ort zum anderen verschleppt.
Er sagte sich, dass er sich beruhigen musste. Ein verlorenes Buch als Vorboten des Wahnsinns zu bezeichnen war völliger Unsinn. Es handelte sich hier lediglich um die Folgen einer Schlaflosigkeit im fortgeschrittenen Stadium.
Das Buch bleibt trotzdem verschwunden!, mahnte eine innere Stimme. Wo – verdammt noch mal! – ist es geblieben?
Richard begann die Wohnung noch einmal systematisch abzusuchen. Er ertappte sich dabei, selbst an so absurden Orten wie dem Backofen oder dem Kühlschrank nachzusehen und spürte wie er dabei von Minute zu Minute zorniger wurde.
Gerade als er auf einem Stuhl stand, die Decke des Hängeschränkchens neben der Spüle absuchte und dabei nur einen toten Nachtfalter und noch mehr Staub entdeckte, klingelte das Telefon. Das Geräusch erschreckte ihn so, dass er strauchelte und beinahe vom Stuhl gefallen wäre.
Es war kurz vor sechs. Er hastete ins Wohnzimmer. Ein Anruf um diese Uhrzeit verhieß nichts Gutes. Er nahm den Hörer ab und war noch immer geistesgegenwärtig genug, um sich nur mit einem knappen, wenn auch atemlosen „Hallo“ zu melden. Zu groß war die Gefahr, dass er noch immer die Nachnamen Gerling und Kenning durcheinander brachte.
Niemand meldete sich. „Hallo!“, wiederholte Richard und hatte trotzdem das Gefühl, dass jemand am anderen Ende der Leitung war. Er wartete auf ein verräterisches Atmen, aber stattdessen vernahm er ein völlig anderes Geräusch.
Das Telefon schien plötzlich glühend heiß geworden zu sein und sich in die rechte Schädelhälfte zu brennen. Seine Augen wurden immer größer. Er spürte, wie sein Herz für eine Sekunde aussetzte, um dann mit einem wilden und unregelmäßigen Rhythmus wieder einzusetzen.
Es war eine Katze. Sie stieß ein aggressives, zischendes Fauchen aus. Wie vor einem unmittelbaren Angriff. Wie im Todeskampf.
Immer und immer wieder.
Dann setzte abrupt eine Stille ein, die ihn schwindelig machte. Richard schmeckte mit Verzögerung den Geschmack von Metall in seinem Mund. Er hatte sich die Unterlippe zerbissen.
Richard war einer Ohnmacht nahe. Das schnurlose Telefon entglitt seinen tauben Fingern. Er torkelte wie ein Betrunkener durchs Zimmer, fegte mit der Hand einen Stapel Bücher aus dem Regal, warf die Yucca-Palme um. Sein Knie stieß gegen die Tischkante. Der scharfe Schmerz ließ ihn klarer denken.
Er starrte das Telefon auf dem Fußboden an. Mit einem Mal kam ihm ein Gedanke. Er schaltete das Licht aus, humpelte zum Fenster und blickte zum gegenüberliegenden Haus.
Krüger, erinnerte er sich. Der alte Waffennarr hieß Krüger. Sein Nachbar Sandow hatte den Namen auf dem Nachhauseweg erwähnt. In Krügers Wohnung brannte kein Licht. Richard beugte sich so weit vor, dass seine Nasenspitze gegen die Glasscheibe drückte.
War das die Silhouette eines Menschen hinter der Gardine? Beobachtete ihn der alte Mann in diesem Augenblick? Oder war das da drüben nur der Umriss einer Stehlampe, einer Pflanze oder von sonst
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