Zwienacht (German Edition)
Regen wurde stärker und er musste die Scheibenwischer auf die höchste Geschwindigkeitsstufe stellen.
„Du kannst nicht aussteigen“, sprach die Stimme weiter. Er versuchte sich den Anrufer vorzustellen, den er nie zu Gesicht bekommen hatte. Der Mann war nur eine Silhouette in einem Volvo vor dem Haus gewesen und er hatte nur sein erregtes Atmen hinter sich vernommen, als er, angeschnallt auf dem Bock im Club, von ihm bis zur Bewusstlosigkeit geprügelt wurde. Er stellte sich einen muskulösen und brutalen Mann mit großen Händen und einem kantigen Gesicht vor.
„Willst du, dass alle erfahren, was du so in deiner Gummihose treibst? Willst du das!“
„Es spielt keine Rolle mehr.“ Obwohl er es nicht wollte, verwandelte sich seine Stimme in ein weinerliches Winseln.
„Du wärst ruiniert.“
„Das ist mir scheißegal!“
Der Anrufer änderte die Taktik. „Ich könnte deine Mutter klein schneiden. Ich werde sie aus ihrem Rollstuhl schubsen und ganz langsam filetieren. Das kann einen ganzen Tag und eine ganze Nacht dauern. Es liegt nur an dir, ob das geschieht.“
Die Boshaftigkeit des Mannes machte ihm klar, dass sein Entschluss die Stadt zu verlassen, richtig gewesen war. Selbst die Polizei würde ihm nicht die nötige Sicherheit bieten können.
Niemals zuvor war er jemanden begegnet, auch nicht in den Gefängnissen oder der Forensik, der soviel Gewalt und Hass in sich trug.
Der Fremde hatte verlangt, dass er seinem Patienten, dem Schriftsteller, bei der nächsten Sitzung weismachen sollte, dass er sterbenskrank sei. Nicht nur vom Wahnsinn bedroht, sondern dem Tode nahe.
Er würde das nicht tun.
Sein Plan war es, sich an einem Ort zu verstecken, an dem ihn der Wahnsinnige unmöglich finden konnte. Weit weg von Döbeln.
Erst von dort aus wollte er die Polizei kontaktieren. Anonym. Wenn er sicher sein konnte, dass alles vorbei war, würde er zurückkehren.
„Du hast eine Stunde Zeit, um in die Praxis zu kommen und deine Aufgabe zu erfüllen. Sonst werde ich deine Mutter besuchen. Und wenn du versuchst, dich und die alte Schachtel zu verstecken ... Ich finde euch.“
„Verrecke!“ Er schleuderte das Handy von sich, wechselte auf die Mittelspur und trat aufs Gaspedal.
Die Uhr am Armaturenbrett zeigte, dass es Viertel nach drei war. Zu dieser Zeit würde sich seine Mutter den ersten Drink schon längst genehmigt haben. Sie würde bald einschlafen und dieses Mal nicht mehr aufwachen. Das Medikament, das er in ihre Flasche gefüllt hatte, war geruchs- und geschmackslos und bei Überdosierung absolut tödlich.
Keine Schmerzen. Sie war in Sicherheit. Die Strapazen einer Flucht hätten sie unnötig aufgeregt und mit großer Wahrscheinlichkeit ohnehin getötet.
Er schlug mit der Faust auf das Lenkrad.
„Es war richtig. Richtig! Richtig!“
Mit einem Mal musste er laut lachen. Er griff nach der Flasche Cognac auf dem Beifahrersitz. Sie stammte aus dem Geheimversteck seiner Mutter, das ihm seit Jahren bekannt war. Er nahm einen tiefen Schluck, fühlte sich besser und trank erneut.
„Auf dich, Mama!“
Er war jetzt geradezu euphorisch. Der Wahnsinnige hatte weder auf ihn, noch auf seine Mutter Zugriff.
Er würde Richard Kenning nicht weiter belügen müssen.
Kenning! Der Name des Autors machte ihm klar, dass er etwas übersehen hatte.
Richard Kenning schwebte von nun an in akuter Gefahr. Vermutlich würde der Verrückte sein Vorgehen nun verändern, beschleunigen ...
Wie hatte er das nur übersehen können! Er musste Kenning warnen. Sofort!
Busch entdeckte das Handy im Fußraum vor dem Beifahrersitz und streckte den Arm danach aus. Er lenkte jetzt nur mit einer Hand und wagte es, den Blick für eine Sekunde von der Fahrbahn zu nehmen.
Mit den Fingerspitzen berührte er das Handy, konnte es aber nicht greifen.
„Mist!“
Er nahm Gas weg – die Tachonadel blieb bei 140 km/h hängen – , beugte sich über die Mittelkonsole und versuchte erneut, an das Handy heranzukommen. Es klappte nicht.
Gerade, als Joachim Busch beschlossen hatte, den nächsten Rastplatz anzufahren und sich wieder voll auf den Verkehr konzentrieren wollte, zog ein Lastwagen auf die Mittelspur.
Das Heck des Lastwagens tauchte in den Regenschleiern ganz plötzlich vor ihm auf. Der Psychiater starrte auf rote Rücklichter und dann auf das Abbild eines überdimensionalen Marmeladenglases – Kiwi-Maracuja – auf der Ladeklappe.
Sein Gehirn gab ihm den Befehl zu bremsen, aber ehe sein rechter Fuß reagierte, bohrte sich
Weitere Kostenlose Bücher