Zwienacht (German Edition)
jedes seiner Worte, in der Hoffnung heraushören zu können, dass er sie doch noch davonkommen ließ. Hatte er gerade nicht gesagt Lass die Finger davon ? Konnte das bedeuten, dass er ihr doch noch eine Zukunft zugestand?
„Da haben Sie völlig recht“, sagte sie und versuchte nicht allzu kriecherisch zu klingen. „Ich mag eigentlich gar keinen Alkohol. Ich werde schon nach einem Glas Wein betrunken.“
Keine Reaktion. Nur das stetige Geräusch des Rauchens.
„Ich würde gern wissen, warum Richard Gerling in Wirklichkeit Kenning heißt“, versuchte sie die Unterhaltung zu beleben, obwohl ihr die Frage nicht wirklich von Bedeutung war. Nicht in ihrer Situation.
Der Mann grunzte verächtlich. „Der Scheißkerl hat dich angelogen. Weder ist er in Duisburg geboren, noch schreibt er ein Buch über Nazis.“
Woher wusste der Mann davon?, fragte sich Maria. Wie konnte er ihre Gespräche belauschen?
„Er hat versucht, mir mein Leben zu stehlen“, fuhr der Mann fort und Maria spürte, wie der Fremde sehr schnell wütend wurde. Es war besser, das Thema zu wechseln.
„Kommen Sie aus dieser Gegend?“, fragte sie.
„Nein“, kam die Antwort. „Aber ich könnte mich an diese Stadt gewöhnen.“ Er lachte kurz. Es klang wie das Bellen eines sehr großen Hundes. „Aber dann würde ich mir natürlich einen anderen Ort zum Wohnen als diesen hier aussuchen.“
„Dann leben Sie zurzeit hier?“
„Was will man machen, Kleine.“ Jetzt hörte er sich beinahe amüsiert an. „Ich muss nun mal in der Nähe von deinem Liebsten sein. Je näher, desto besser. Und hier komme ich ihm sehr, sehr nahe.“
Maria überlegte, was er damit meinte und versuchte Rückschlüsse auf ihren Aufenthaltsort zu ziehen.
Wo bin ich?
Ganz bestimmt noch in Döbeln.
In der Nähe von Richard Gerling .... Kenning.
Sie spürte plötzlich eine unbändige Wut auf diesen Richard. Er war schuld an ihrer Lage. Hätte er nicht plötzlich mit dem Hammer in der Hand vor ihr gestanden, wäre ihr nichts geschehen.
Aber der Zorn verflog, als der Mann unaufgefordert weiterredete. Der Schuldige – der Irre! – hockte wenige Meter von ihr entfernt.
„Es gibt eine übergeordnete Macht. Von ihr erhalte ich die Befehle, denn die Macht ist unzufrieden mit der Menschheit. Sie ist schwach, unzüchtig, dekadent. Deshalb bin dazu aufgerufen worden, die Impfungen vorzunehmen.“
„Impfungen?“, fragte Maria nach, obwohl sie das Gefühl hatte, sich mit diesem Thema auf ganz dünnes Eis zu begeben.
„Wer sich von mir töten lässt, ist es nicht wert, auf dieser Erde weiterzubestehen. So einfach ist das. Was bleibt, ist die Elite. Stark genug für die Zukunft. Eine ganz klare Sache. Ein ganz klar umrissener Auftrag.“ Er stand so abrupt auf, dass der Stuhl umfiel. Er begann durch den Raum zu schreiten, während er mit dem Zigarillo rot glühende Muster in das Halbdunkel wirbelte.
Maria erkannte, dass er in Rage geriet. Und das war nicht gut. Überhaupt nicht gut.
„Wo sind Sie geboren?“, fragte sie mit zitternder Stimme, aber der Mann achtete nicht auf sie.
„Ich führe die Menschen in ein neues Zeitalter“, schnaufte er und hielt inne, um an dem Zigarillo zu saugen. „Aber diese ganzen Trottel können das nicht erkennen. Sie würden an simplen Mord denken, wo doch nur Befehle ausgeführt werden. Richtige Befehle! Wenn man mich einsperrt, kann ich die Probleme dieser Welt nicht lösen.“
Er stand jetzt hinter ihr. Sie konnte ihn nicht sehen, so sehr sie auch die Augen verdrehte.
„Es ist manchmal eine sehr schmutzige Arbeit“, sagte er jetzt in einem fast träumerischen Tonfall. „Weißt du, Kleine: Menschen machen selbst beim Sterben noch viel Dreck. Aber zum Glück bin ich nicht allein. Es existieren viele wie ich. In allen Teilen der Welt stehen sie zu ihrer Berufung und führen die Impfungen durch.“
Seine Hand schnellte vor und umfasste ihren Kopf wie ein Schraubstock. „Hältst du mich für verrückt, Mädchen?“ Er hob ihren Kopf ein wenig an, so dass der Draht in die zarte Haut an ihrer Kehle schnitt.
„Nein“, röchelte sie.
Er ließ sie nicht los. „Du hast mich eben gefragt, wo ich geboren bin. Du siehst, ich habe dir genau zugehört. Ich will gar nicht mehr wissen, wo ich geboren bin. Das ist völlig belanglos. Die gesamte Vergangenheit ist belanglos.“ Er hob ihren Kopf noch ein Stück weiter an. Maria war sich sicher, dass der Draht ihren Kehlkopf zerschneiden würde. Sie gurgelte und spuckte blutigen
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