Zwilling verzweifelt gesucht
Frau Rabusch noch auf ihre Tüten.
„ Hallo? “ , rufe ich in die Wohnung. „ Frau Rabusch? “
Keine Antwort. Niemand kann von mir verlangen, dass ich jetzt das ganze Haus nach ihr absuche. Ich lege die beiden Plastiktüten auf den Garderobenschrank und wende mich gerade zum Gehen, als ich irgendwo im Haus eine Tür schlagen höre.
„ Svenja, bist du das? “
„ Ja! “
„ Warte! “
Frau Rabusch kommt die Treppe herunter, erstaunlich schnell für eine alte Frau, die vor fünfzehn Minuten noch fast zu Tode erschreckt worden ist. Sie lächelt freundlich.
„ Ich habe etwas für dich “ , sagt sie. „ Als kleines Dankeschön. Aber denk daran, dass es nur für dich allein ist. Ich möchte, dass du die ganz alleine aufisst! “
Und sie überreicht mir eine Vierhundertgramm-Tafel bester Vollmilchschokolade.
Die Schokoladentafel ist so groß, dass ich sie nur mit Mühe und Not in meinem Rucksack verstauen kann. Noch nie in meinem Leben habe ich allein so eine große Tafel Schokolade besessen.
Noch nie in meinem Leben habe ich mir so eine Art Rechtsanwalt gewünscht, der mir ein paar wesentliche Fragen beantworten würde: Kann man eine Sache überhaupt durch einen Vertrag weggeben, bevor man sie besitzt? Gilt der Vertrag auch, wenn das, was man dann überraschenderweise besitzt, viel mehr ist als das, womit man allerhöchstens hätte rechnen können? Ich meine, sowohl meine Brüder wie auch ich selbst sind von hundert Gramm Schokolade ausgegangen, nicht von vierhundert Gramm! Sowohl meine Brüder wie auch ich haben damit gerechnet, dass es noch eine ganze Weile dauern wird, bis ich die Schokolade übergeben kann.
Und vor allem: Frau Rabusch hat mir ausdrücklich aufgetragen, diese Schokolade alleine zu essen. Bin ich jetzt also verpflichtet, diese riesige, fantastische, unvorhergesehene Schokoladenprachttafel abzugeben oder nicht? Das kann doch nicht sein, das ist bestimmt nicht gerecht! Und ich kann es Frau Rabusch nicht antun.
Muss ich meinen Brüdern ein Viertel der Tafel abgeben – diese Menge würde einer normalen Schokoladentafel entsprechen? Und wie vermeide ich Diskussionen darüber, ob ihnen nicht alles zusteht – ich würde unterliegen, es sind ja mal wieder zwei gegen einen.
Bis zur Klärung der Verhältnisse muss ich die Schokolade jedenfalls gut verstecken. Zumindest werde ich meinen Brüdern die Kamera gleich zurückgeben. Alisia hat die verräterischen Fotos gleich nach dem Herunterladen gelöscht.
Mein Handy bleibt den ganzen Abend über stumm, und da sich auch Alisia nicht meldet, gehe ich davon aus, dass noch keine Hinweise auf meine Schwester eingegangen sind. Also kann ich in aller Ruhe Jule und Jana ins Bett bringen und ihnen dann noch eine Geschichte vorlesen. Die beiden mögen im Moment besonders gern Geschichten, in denen kleine Bären ihre Mütter verlieren oder kleine Elefanten sich in der Wüste verlaufen. Vielleicht möchten sie uns alle unbewusst loswerden. Oder sie bereiten sich darauf vor, in die Schule gehen zu müssen.
Jana besteht heute darauf, mir einen feuchten Gutenachtkuss auf die Backe zu drücken, aber Jule macht nur „ bäh! “ und versteckt sich unter der Decke. So unterschiedlich können Zwillinge sein. Ich weiß wirklich nicht, was auf mich zukommt, wenn wir S2 gefunden haben. Hoffentlich ist sie nicht genau das Gegenteil von mir – ich brauche Verstärkung, keinen siebten Gegner!
Ich gehe früh ins Bett, und das ist ein großer Fehler. Ich bin nämlich nicht müde genug, um gleich einzuschlafen, sodass sich allerlei unerfreuliche Gedanken und Bilder in mein dahindämmerndes Bewusstsein einschleichen können. Ich erinnere mich an jedes einzelne unserer Plakate. Mein Gesicht im Supermarkt, an der Haltestelle, an einem Baum zwischen Wohnungssuchenden und „ Junge Katzen abzugeben “ .
An zwanzig verschiedenen dicht bevölkerten Stellen dieser Stadt starre ich jetzt dämlich aus meinem rosa Rüschenkleid in die Menge. Schwitzend werfe ich mich von einer Seite auf die andere. Vielleicht sollte ich mich aus dem Haus stehlen, alle Stellen noch mal abfahren und die Plakate abnehmen? Ich könnte zu meinem Schutz in der Nacht die beiden Hunde mitnehmen. Nein, es ist zu spät. Es geht frühestens morgen nach der Schule. Bis dahin kennt allerdings die ganze Stadt mein Gesicht. Vielleicht sollte ich stattdessen lieber von hier verschwinden, in eine andere Stadt ziehen, von morgen an auf der Straße leben … Auch in diesem Fall würde ich die Hunde mitnehmen,
Weitere Kostenlose Bücher