Zwilling verzweifelt gesucht
übrigens. Die beiden vermisst ja keiner. Und mich vermisst auch keiner. Wenn die meine Zwillingsschwester einfach vergessen haben, dann werden sie mich bestimmt genauso schnell vergessen.
Irgendwann schlafe ich dann doch ein. Ich träume von S2, S3, S4 und S5 … denn wie sich (im Traum) herausstellt, habe ich nicht nur eine Zwillingsschwester, sondern bin in Wirklichkeit ein Fünfling! Meine Eltern haben die anderen Mädchen, die alle aufs Haar genauso aussehen wie ich, einfach auf der Welt verteilt: eine lebt in Amerika, eine in Russland, eine in Indien, eine in der Südsee. Eines unserer Plakate ist per Flaschenpost an der Südseeinsel gestrandet, sodass auch die letzte Schwester meine Nachricht bekommt, morgen früh in ihrem Baströckchen an meiner Tür klingelt und dann …
… klingelt der Wecker, und bevor ich richtig wach werde, freue ich mich noch einen Moment lang darüber, dass Frau Rabusch mir diese riesengroße Schokoladentafel geschenkt hat, denn sie wird für alle meine vier Schwestern reichen …
… und dann bin ich richtig wach und muss mich sogar schon beeilen, um vor der Schule noch ordentlich frühstücken zu können. Bilde ich es mir ein oder sieht mich Papa beim Frühstück so rätselnd an? Weiß er etwas? Hat ihn jemand angerufen, von unserer Plakataktion berichtet? Jetzt habe ich doch nicht mehr so viel Appetit.
„ Bis später “ , sage ich beiläufig zu Papa, der sich jetzt dem Kindergartenfrühstück von Jana und Jule widmet.
„ Ja, bis dann. “ Papa schneidet eine rote Paprika in ordentliche Viertel und entfernt die Kerne. Er wendet sich um, als ich zögere. „ Ist noch was? “
„ Nein … “
„ Gut. “
Da gehe ich eben.
Frau Rabusch scheint noch zu schlafen, sie hat die Läden noch nicht hochgezogen. Hoffentlich geht es ihr gut. Vielleicht hat sie sich gestern sterbenselend gefühlt und mir schnell noch die Schokolade geschenkt, damit wenigstens ein Mensch sie in guter Erinnerung behält. Oder damit ihre sechs Zähne fletschenden Wolfsbrüder die Schokolade nicht erben. Wenn ihre Läden heute um die Mittagszeit noch geschlossen sind, werde ich die Polizei rufen müssen.
Ich hätte mir denken können, dass Alisia wieder so lange auf mich einredet, dass ich dann doch beschließe, die Plakate hängen zu lassen. Sie behauptet einfach, dass mich keiner erkennen wird.
„ Du hast doch selbst gesagt, dass du überhaupt nicht so aussiehst wie das Mädchen auf dem Foto “ , erinnert sie mich.
Ich zucke mit den Achseln. Und dann nimmt der Schulvormit tag seinen Lauf, mit den üblichen Höhen und Tiefen. Bei Unterrichtsende bin ich viel zu hungrig, um noch irgendwelche Umwege zu fahren. Glücklicherweise hat Frau Rabusch inzwischen wenigstens ihre Rollläden hochgezogen. Um sie muss ich mir also keine Sorgen mehr machen.
Beim Mittagessen geht es heute hoch her. Rasmus und Robin bekommen offenbar jeweils einen Zahn, jedenfalls sind sie unleidlich, heulen und schreien abwechselnd. Jule und Jana haben beschlossen, dass sie ab heute kein Fleisch mehr essen werden, und weil es ausgerechnet Tortellini mit Fleischfüllung gibt, beschäftigen sie sich sehr ausdauernd damit, die Nudelhülle abzupulen und den Hunden abwechselnd die Füllung zuzuwerfen. Finn und Fabian reden überhaupt nicht, sind aber dennoch so offensichtlich schlecht gelaunt, dass die Luft über ihren Köpfen zu knistern scheint. Mama und Papa versuchen, das alles nicht zu beachten und sich ganz sachlich über eine Internet-Werbeaktion für den Krawallator zu unterhalten.
In all dem Durcheinander ist für meine Sorgen überhaupt kein Platz, und deswegen reagiere ich viel zu spät auf das Klingeln meines Handys. Erst als Papa mich mit gerunzelter Stirn fragt, warum ich nicht drangehe, durchzuckt mich eine Art elektrischer Schlag. Ich springe auf, schiebe meinen Stuhl zurück und spurte aus der Küche. Als ich in der Sicherheit meines Zimmers angelangt bin, ist das Klingeln bereits verstummt. Die Nummer kann ich überprüfen … sie ist nicht in meinem Adressbuch abgespeichert.
Mein Herz klopft wie verrückt. Soll ich zurückrufen? Ich traue mich nicht … Aber vielleicht ist es für mich die einzige Chance im Leben, meine Schwester wiederzufinden.
Ich muss nur eine einzige Taste drücken. Eine einzige Taste, auf der zwei kurze Pfeile abgebildet sind. Hier entlang geht es zu deiner Schwester, bedeuten diese beiden Pfeile. Mist. Ich kann nicht. Ich muss erst ein Stück Schokolade essen. Zucker ist gut für die
Weitere Kostenlose Bücher