Zwillingsblut (German Edition)
durch die Menge bewegte. Doch zu viele Eindrücke prasselten auf zu viele Sinnesorgane ein, verlangten Sofias ungeteilte Aufmerksamkeit, während die Vampirin versuchte, sich an den Weg nach Draußen, in die Freiheit zu erinnern. Sofia fühlte sich von ihren eigenen Empfindungen beengt, eingekreist und gefangen genommen, da es ihr kaum gelang festzustellen, wo ihr Körper aufhörte und die Umgebung begann.
Selbst die frische, kristallklare Luft, die ihr plötzlich ins Gesicht schlug, änderte nichts daran. Die Panik und das Gefühl in der Welt zu zerfließen, blieben bestehen, während sie durch die Schatten huschte, eins wurde mit der Dunkelheitund sich so schnell durch Gassen und über Straßen bewegte, dass sie ihre Umwelt kaum wahrnahm.
Sofia verlangsamte ihr Tempo erst, als sie ein Bauwerk, welches sie Tagsüber besichtigt hatte, wieder erkannte. Die gotische »Teyn-Kirche« mit ihren zwei hohen Türmen, die das Wahrzeichen waren von… Ärgerlicherweise konnte sich Sofia daran erinnern, dass sie dort das älteste Taufbecken Prags besichtigt hatte, aber nicht mehr daran, wo die Kirche stand. War es die »Josefstadt«? Die »Altstadt«? Oder die »Kleinseite«?
Sie atmete auf, als ihr klar wurde, dass die Vampire aus dem Club ihr nicht folgten. Trotzdem zitterte ihr ganzer Körper unkontrolliert und ihr war kalt, obwohl Vampire nicht von Temperaturen beeinflusst wurden. Gemessenen Schrittes ging die Vampirin weiter, zwang sich dazu, sich auf ihre Umgebung zu konzentrieren und öffnete ihre Sinne gezielt, um in die Nacht zu horchen.
Doch! Da waren Vampire, viele Vampire und sie näherten sich ihr. Sofia drehte sich zur Kirche, doch es war zu spät. Mit einer Geschwindigkeit, die ihrer gleich kam, schnitten die Verfolger ihr den Weg ab.
Sofia sah nach oben, als sie die Präsenz fühlte, aber nicht begriff.
Er fliegt! Der verdammte Vampir fliegt!
Erschüttert hetzte sie vor dem Verfolger, dessen Umriss sich deutlich gegen den dunklen Nachthimmel abgezeichnet hatte. Ihre neu entdeckten Sinne verglichen die Auren, die sie im Club wahrgenommen hatte mit denen der Vampire, die hinter ihr her waren. Es gab nur eine Übereinstimmung, aber die genügte, um ihr klar zu machen, dass sie tatsächlich gejagt wurde: Noctalyus! Noctalyus und seine Freunde!
Jetzt tat es der Vampirin leid, nicht geschossen zu haben, als sie die Möglichkeit dazu gehabt hatte – zweimal!
So schnell es ihre unbewussten Fähigkeiten erlaubten, hetzte Sofia die »Malé námésti« entlang und hoffte, dass sie sich nicht in der Richtung vertat. Doch schon als sie das Rathaus mit dem 69 Meter hohen Turm erkannte, an dessen Südseite sich die bekannte Astronomische Uhr »Orloj« befand, deren »Männleinlaufen« sie ebenfalls besichtigt hatte, begriff sie, dass sie nicht nur in die falsche Richtung lief, weg von ihrem Hotel und weg von dem Hummer, in dem sie noch mehr Schusswaffen verstaut hatte, sondern sich auch immer weiter von allen Kirchen entfernte, die ihr Sicherheit bieten würde.
Das Seltsamste war, dass ihr kein Mensch begegnete, obwohl gerade die Altstadt immer von erlebnishungrigen Touristen oder einheimischen Jugendlichen heimgesucht wurde. Doch gleichwohl der »Tod im Glockenspiel« –
Doch nicht um diese Uhrzeit!
– eben die Totenglocke läutete und seine Sanduhr umdrehte, wirkte die Stadt wie ausgestorben. Für gewöhnlich schlief sie nie, doch jetzt schienes so, als seien die Lebenden allesamt unsanft zur Ruhe befördert worden. – Sofia sah an der nächsten Ecke einige Jugendliche auf dem Boden liegen, zu einem ineinander verschlungenen Knoten aus Gliedmaßen und Körpern geordnet, als habe sie jemand nicht nur gezwungen zu schlafen, sondern sie auch noch in höchst effizienter Weise gestapelt. Die Vampire schienen ganze Arbeit geleistet zu haben, denn irgendwie war es ihnen gelungen, den gesamten Stadtteil nach ihrem Gutdünken zu inszenieren.
Sofia folgte den abenteuerlichen Windungen der Straße zwischen malerischen Renaissance- und Barockhäusern hindurch, erinnerte sich daran, dass sie diesen Weg ebenfalls besichtigt hatte, konnte ihn aber auf ihrem geistigen Stadtplan nicht einordnen, so dass sie orientierungslos nach rechts weiterhastete und dann nach links. Als sie das Schild »Karlova« – Karlsgasse – las, war es zu spät. Viel zu viele Vampire waren ihr zu nahe auf den Fersen. Doch es war eine neue Aura unter ihnen, die sie erschütterte. Edward!
Sofia versuchte die aufsteigende Panik niederzukämpfen.
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