Zwillingsbrut
Haus- und Autoschlüssel lagen in einer Schale auf einem Tischchen in der Diele neben der Haustür. Sie entdeckten ihre Brieftasche auf dem Küchentresen und ihre Schultasche auf der Sitzfläche eines der beiden dazugehörigen Barhocker; ihr Laptop stand auf einem kleinen Schreibtisch und war an die Steckdose angeschlossen. Im Schlafzimmer verrieten rezeptfreie Grippemedikamente auf dem Nachttisch und Taschentücher im Papierkorb neben dem Bett, dass sie sich nicht wohl gefühlt hatte; trotzdem war sie joggen gegangen. Das war etwas merkwürdig, doch andererseits setzten Jogging- und Sportfanatiker ihr Training nicht selten auch mit Erkältungssymptomen fort.
Jocelyns zehn Jahre alter Jetta stand auf seinem Parkplatz in dem langen Carport, in dem die Bewohner dieses Gebäudes – eins von vieren in dem Apartmentkomplex – ihre Fahrzeuge unterstellten. Was fehlte, war ein Haustier – eine Katze, den Futterdosen in der Vorratskammer nach zu urteilen. Auf dem Fußboden standen eine kleine Wasser- und eine Futterschüssel; im Badezimmer entdeckten sie ein Katzenklo neben der Toilette. Es war nahezu unbenutzt, also kein Hinweis auf den Stubentiger.
»Wo steckt die Katze?«, fragte Pescoli.
»Ist offensichtlich verschwunden«, erwiderte Alvarez und sah sich weiter suchend um. »Nichts deutet auf einen Einbruch oder einen Kampf hin. Es sieht ganz so aus, als hätte Jocelyn einfach beschlossen, ein wenig Sport zu treiben. Wenn sie jemand überfallen hat, dann ganz bestimmt nicht hier. Vielleicht unterwegs auf ihrer Joggingroute.«
Pescoli folgte Alvarez’ Blick. Alles in der Wohnung deutete darauf hin, dass die Lehrerin wirklich nur eine Runde hatte drehen wollen; trotzdem schien sich ihre Partnerin nicht mit der Erklärung zufriedengeben zu wollen, dass es lediglich ein verhängnisvoller Fehltritt gewesen war. »Ich habe so ein dummes Bauchgefühl«, sagte sie, als sie im Wohnzimmer standen, in dem es fast penetrant nach einem strombetriebenen Lufterfrischer roch.
»Seit wann gibst du etwas auf Bauchgefühle?«, erkundigte sich Pescoli. In all den Jahren, die sie nun Partnerinnen waren, hatte Pescoli Alvarez als nüchterne, zielstrebige Polizistin kennengelernt, die sich an nichts anderes als an die kalten, harten Fakten hielt.
»Seit Jocelyn Wallis’ Tod einfach keinen Sinn für mich ergibt«, erklärte ihre Partnerin und fing an, Laptop, Handy und die Rechnungen, die auf dem Schreibtisch lagen, zusammenzusuchen. »Wir sollten uns ein bisschen Zeit nehmen, das hier zu überprüfen. Findest du nicht, es wäre interessant herauszufinden, wer von ihrem Tod profitiert?«
»In der Tat, das wäre äußerst interessant.«
»Na schön«, sagte Alvarez. »Dann mal los.«
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Kapitel 10
F ür gewöhnlich war Thanksgiving ein Alptraum für Pescoli. In diesem Jahr würden die Kinder den Tag bei Luke und seiner Barbiepuppe von Ehefrau, Michelle, verbringen. Noch keine dreißig, trug sie ihre langen blonden Locken offen, und sie bevorzugte Klamotten, die ihre Sanduhrfigur betonten. Michelle war mädchenhafter als erlaubt, und ihre gespielte Naivität übertraf alles. Dennoch wusste Pescoli, dass sich hinter den vor Lipgloss gleißenden Lippen, der dicken schwarzen Wimperntusche und dem stets überraschten, sexy Gesichtsausdruck eine clevere Frau verbarg, die es aus irgendeinem unerfindlichen Grund auf Lucky abgesehen hatte, der zwar gut aussah und – wenngleich nicht sonderlich gebildet – auch nicht gerade auf den Kopf gefallen war, jedoch jeglichen Ehrgeiz vermissen ließ. Er fuhr mit seinem schweren Pick-up herum, wann immer er Lust dazu hatte, und wenn ihm nicht danach war und das Wetter es zuließ, ging er lieber angeln oder spielte Golf. Oder er klemmte sich ganz einfach vor die Mattscheibe.
»Wie füreinander gemacht«, murmelte sie und hoffte, dass die Kinder endlich aus ihren Zimmern kämen. Pescoli hatte darauf bestanden, dass sie die Feiertage bei ihrem Vater verbrachten, obwohl Bianca wieder einmal behauptete, sie sei krank, und Jeremy maulte, Luke sei nicht sein »richtiger« Vater.
»Was für ein Pech«, hatte sie mitleidlos erwidert.
Den Kindern zuliebe und weil sie letztes Jahr beinahe ums Leben gekommen wäre, hatten Luke und sie den Versuch unternommen, das Kriegsbeil zu begraben. Ihre Scheidung war alles andere als freundschaftlich verlaufen, und jetzt, im Rückblick, wurde Regan klar, dass ihre Feindseligkeit ein Fehler gewesen war. Doch alte Gewohnheiten starben nur langsam, vor allem bei
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