Zwillingsbrut
du genau weißt, wie es wirklich war …
Jedes Mal, wenn Kacey ihre Mutter zu sich nach Hause eingeladen hatte, hatte diese kategorisch abgelehnt und darauf bestanden, dass ihre Tochter nach Helena kam.
»Du
musst
hierherkommen!«, hatte sie ausgerufen. »Mitchell, der Chef de Cuisine, ist ein Gott, wenn es um das Menü geht, und keine von uns beiden hat Lust, Stunden mit Kochen und Aufräumen zu verbringen. Außerdem ist mir die Anfahrt zu anstrengend.«
Was eine glatte Lüge war. Warum ihre Mutter auf ihr Alter pochte, obwohl sie noch nicht einmal siebzig war, überstieg Kaceys Verstand. Maribelle hatte weit mehr Energie als viele Frauen, die nur halb so alt waren wie sie, und auch geistig war sie fast immer topfit. Kacey konnte sich das Ganze nur so erklären, dass ihre Mutter eine Art Diva in der Rolling-Hills-Seniorenresidenz war und diese herausragende Position nicht eine Sekunde missen mochte.
Also hatte sie beschlossen, die Fahrt auf sich zu nehmen.
»Da bist du ja, mein Liebling!« Die Stimme ihrer Mutter hallte durch das große Foyer. Kacey, abrupt aus ihren Tagträumereien gerissen, fuhr herum und sah ihre Mutter in einem glänzenden silbernen Kleid und High-Heels auf sie zustöckeln.
Maribelle, groß und schlank, zog mit ihrer auffälligen Erscheinung gern sämtliche Blicke auf sich. Jetzt lächelte sie breit und nahm zur Begrüßung beide Hände ihrer Tochter in die ihren, was Kacey überraschte. Bei ihrer letzten Begegnung hatte sie lediglich mürrisch dreingeblickt und sich die ganze Zeit über beklagt. Mit fünfundsechzig nun war sie agil und jugendlich, und sie kleidete sich, als wollte sie zum Shoppen auf die New Yorker Fifth Avenue gehen. Ihr volles, weißes Haar war zu einem weichen Pagenkopf geschnitten; ihre blauen Augen funkelten hinter einer modischen Brille, ihr Kinn war so fest wie eh und je. »Ich habe mich so auf den heutigen Abend gefreut! Komm schon, komm schon!« Sie fasste Kacey am Arm und führte sie in den Speisesaal auf der Rückseite des Gebäudes. Girlanden aus Kiefernzweigen waren um die Fenster drapiert. Weiße Lämpchen funkelten zwischen den langen Nadeln, auch hier brannte ein munteres Feuer im Kamin, die Tische waren mit weißem Leinen eingedeckt und mit kleinen roten und weißen Weihnachtssternen geschmückt.
»Ist das nicht festlich?«, fragte Maribelle begeistert. »Es ist zwar alles schon recht weihnachtlich, aber warum nicht? Oh, dort drüben ist mein Tisch.« Sie deutete in Richtung der Fenster und ließ dabei den Blick über die Sitzecke und die wenigen Dinnergäste gleiten, die bereits Platz genommen hatten.
»Heute fehlen viele Bewohner, weil sie bei ihren Kindern oder Geschwistern oder sonst wo eingeladen sind. Deshalb haben wir den Tisch für uns!« Zum ersten Mal seit langem wirkte sie aufgeregt und spritzig. »Setz dich, setz dich.« Sie deutete auf einen der bequemen Stühle und nahm selbst Platz, dann entrollte sie eine Serviette, die neben ihrem Weinglas gelegen hatte.
»Erzähl mir«, sagte sie und strich das Leinen sorgfältig über ihrem Kleid glatt, »wie ist die Arbeit?«
»Hektisch«, sagte Kacey und versuchte, den Wandel zu verstehen, den ihre Mutter vollzogen hatte. Verschwunden war die mürrische, verbohrte Das-Glas-ist-halb-leer-Person, ersetzt durch eine lächelnde, glückliche Frau, die das Leben zu genießen schien. Eine Frau, die sich für ihre Tochter interessierte. »Gestern ist eine Frau in der Notaufnahme eingeliefert worden. Sie ist beim Joggen am Boxer Bluff über eine niedrige Brüstung gestürzt, oben beim Park, du weißt schon, welche ich meine. Gleich auf dem Gipfelweg, bei den Wasserfällen, heißt es.«
»Oh, wie entsetzlich! Ich hoffe, du kriegst sie wieder hin.« Maribelle lächelte flüchtig und wechselte erfolgreich das Thema. »Sieh dir nur die Speisekarte an, Liebes«, sagte sie und tippte mit einem glänzenden, preiselbeerfarbenen Nagel – Preiselbeer war um Thanksgiving offenbar die bevorzugte Farbe in der Rolling-Hills-Seniorenresidenz – auf die Menüauswahl, die auf Kaceys Platzteller lag. So viel zum Interesse an der Arbeit ihrer Tochter oder dem Wohlbefinden der Patientin. »Schau mal, du kannst entweder Truthahnbraten
oder
Baron d’agneau bestellen. Stell dir das vor, du kannst tatsächlich wählen! Und das nur wegen des neuen Küchenchefs, Mitch.« Sie warf die Hände in die Höhe, als wollte sie dem Himmel danken. »Er ist genau das, was wir hier gebraucht haben nach dieser erbärmlichen Crystal. Ich
Weitere Kostenlose Bücher