Zwischen den Gezeiten
Eingangstür, jemand kam zu Besuch. Doch die Stimmen stammten nicht von Alecs Familie, man sprach Deutsch. Die Umrisse im Zimmer verschwammen, drauÃen wurde es blau, Inga erwachte.
Im Erdgeschoà redeten sie immer noch, nicht die übliche Melodie von Familienbesuchen, das Auf und Ab, Gelächter und Ineinander der Worte â eine einzelne Frau sprach. Inga lieà Tanten und Cousinen, Freundinnen der Mutter, vorüberziehen, keiner von denen gehörte die Stimme. Marianne sagte etwas, die Frau antwortete überraschend laut, die Eltern widersprachen nicht. Inga wollte ins Treppenhaus, zögerte das Aufstehen aber von Minute zu Minute hinaus. Der Besuch brach auf, es war noch nicht dunkel, Schritte in der Diele, beim Ausgang. Inga glitt aus dem Bett, weniger taumelig als erwartet, schlich sie zum Fenster. Unter ihr muÃten die Eltern stehen, der Besuch trat aus der Tür, kein Händedruck, die Frau ging durch den Garten, ein Schaltuch verdeckte ihren Kopf. Beim Ãffnen
der Gartentür drehte sie sich kurz um, verschwand schlieÃlich am Ende der StraÃe. Die Eltern kehrten ins Haus zurück. Inga war überzeugt, diese Frau noch nie gesehen zu haben. Langsam wandte sie sich zum Schrank, holte das Geld hervor, kroch unter die Decke und hielt das Bündel, bis es so warm war wie ihre Hände. MuÃte Henning den Diebstahl nicht längst bemerkt haben, wieso meldete er sich nicht, was hatte er Trude gesagt, fälschte er Ingas wegen die Bücher? Nach einer Weile bemerkte sie, wie still es im Haus geworden war, nicht das Plätschern aus der Küche, wenn Erik Geschirr spülte, auch das Radiogerät blieb stumm. Während sich Müdigkeit über sie legte, schob Inga die Scheine behutsam unter ihr Nachthemd.
Am nächsten Morgen kehrte die Klarheit zurück und mit ihr die Sorge. Der Leutnant fiel ihr ein, so wie er wirklich war, ausdruckslos, distanziert. Der strahlend blaue Himmel, sagte Inga, es war Zeit aufzustehen.
Zuerst nahm sie an, die Eltern seien im oberen Stockwerk, bis sie begriff, die Schritte kamen vom Speicher. Ein ungleichmäÃiges Hin und Her, etwas wurde gerückt, abgestellt, beiseite geräumt. In der nächsten Sekunde war sie aus dem Bett, warf die Geldscheine, feucht von verschwitztem Schlaf, in die Tasche, stülpte das Nachthemd über den Kopf, lief ins Bad und erschrak beim eigenen Anblick. Die Haut war welk, die abklingenden Pusteln hinterlieÃen graue Flecken, das Geflecht setzte sich an Hals und Schultern fort, sie starrte auf erschlaffte Brüste.
Erik kam die Treppe so rasch herunter, daà Inga die Tür nicht mehr schlieÃen konnte. Sie hielt ein Handtuch vor die Brust, der Vater wollte sprechen, wartete aber, bis Marianne neben ihm stand. Beide blieben auÃerhalb des Bades.
»Wir haben uns gewundert â« Marianne preÃte die Hände so ineinander, daà der Ehering abstand. »Wo die Barockmadonna geblieben ist.« Sie beschrieb den blauen Mantel, das abnehmbare Zepter, das Lächeln des Christuskindes, als sei der Tochter die Statue unbekannt.
»Ist sie denn nicht im Schrank?« Trotzig beugte Inga sich vor den Spiegel. Beichte den Eltern, fiel ihr der Leutnant ein; der Verlierer, das Gespenst in Uniform.
»Bitte denk nach«, sagte Erik.
»Niemand auÃer uns war im Haus. Keiner auf dem Speicher.« Mariannes Hand fuhr in die Tasche und brachte die Zigarettenpackung hervor. »Ich könnte August fragen.« Die Frauen musterten einander im Spiegel; Inga bemerkte einen Anflug von Damenbart.
»Frag ihn ruhig.« Ihr Lächeln miÃlang.
Das Flämmchen zischte auf und versengte den Tabak.
»Inga!« Mutters Ton der letzten Vernunft â wie damals, als Horst die Wippe im Garten gebaut hatte, der lange Balken schwang hoch, auf der anderen Seite hätte Horst abbremsen müssen, damit die Schwester das Gleichgewicht nicht verlor. Ihm aber machte es SpaÃ, das Brett so hart aufzusetzen, daà sie schwankte und stürzte. Im selben vernünftigen Ton hatte Marianne ihn damals gemaÃregelt.
»Sag uns die Wahrheit.« Ihren Kopf umgab eine blaue Wolke.
Inga musterte die Borste an Mutters Kinn. »Jahrelang fragt kein Mensch danach und jetzt auf einmal?« Sie deutete an, daà sie die Tür schlieÃen wollte. »Keine Ahnung, wo die Madonna ist.«
Die Lüge stand zwischen ihnen, Beichte wurde unmöglich.
»Hast du noch von der Schminke?«
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