Zwischen den Gezeiten
Kribbeln begann auf der Stirn. Als Inga hinfaÃte, konnte sie die Haut dort auf und ab bewegen, der Kopf fühlte sich an, als quelle das Fleisch auf. Ein Schrei Mariannes, Erik erstarrte mit dem Glas in der Hand. Inga lief zum Spiegel, Gesicht, Hals und Arme waren geschwollen, rote Pusteln, selbst unterm Haar, die Lippen quollen so stark, daà sie kaum sprechen konnte.
»Sie hat was gegessen!« rief Marianne.
»Den Doktor«, murmelte Erik und war an der Tür.
Inga legte sich auf die Couch, fühlte sich nicht wirklich schlecht, nur überall dieses Jucken. Ein Brummen vielmehr, es fuhr ihr durchs Blut. Der Gin vom Vorabend fiel ihr ein, manchmal mischten sie Unbeschreibliches zusammen, um das gewünschte Ergebnis zu erhalten. Sie erinnerte sich an ein Schwarzmarktgerücht â von einem Tag auf den andern waren Unmengen von Schnaps aufgetaucht, das Geschäft lief glänzend, bis man dahinterkam, daà die Assistenzärzte des pathologischen Instituts die Präparate aus den Gläsern genommen, den Alkohol gefiltert und verhökert hatten.
Vielleicht ist es gar nicht der Gin, dachte Inga, vielleicht bin ich es selbst. Marianne brachte sie zu Bett.
»Vergiftung«, bestätigte der Hausarzt, die Unsicherheit stand ihm ins Gesicht geschrieben. Er verordnete Wickel gegen die Schwellung und versprach Medikamente. Erik wollte ins Lager, um die Erkrankung der Tochter zu melden. Dann lieÃen die Eltern sie allein, vor der Tür hörte Inga sie flüstern. Mit offenen Augen lag sie da, den kühlen Zellstoff auf der Stirn, sie drückte ihn tiefer, bis die Wirklichkeit nur noch durch enge Maschen zu ihr drang. Diese Erleichterung, keine Entscheidung mehr treffen zu müssen.
Nachts wurde der Juckreiz unerträglich, sie kratzte die Pusteln auf, es bildeten sich wässerige Bläschen. Ruhig wie stets wechselte Marianne die Umschläge, nur an der Zärtlichkeit, mit der Erik ihr die Wasserschüssel abnahm, begriff Inga, wie groà die Sorge der Eltern war. Die Zeit zerfiel, Helligkeit oder Dunkel, wenn sie erwachte, stand der riesige Vater über ihr, sie konnte nicht essen, er flöÃte ihr Limonade durch einen Strohhalm ein. Die Eltern hatten Tabletten bekommen, ob bei den Engländern, sagten sie nicht; zerrieben und in Milch aufgelöst, nahm Inga die Arznei zu sich. Von da an wuÃte sie nicht mehr, wie lange sie schlief.
Nachts entdeckte sie Hennings Frau im Zimmer. Die zarte Trude stemmte den Stahlschrank über den Kopf, heraus purzelten winzige Jungs, alle vollkommen gleich. Mit traurigem Gesicht trat Henning dazu und sagte, er habe hungrige Mäuler zu stopfen. Sein Geld lag im Kleiderschrank, Inga wagte nicht, es zu zählen. Trude nahm ihren Gatten in den Arm, alles gestohlen, sagte sie und versuchte seine Zärtlichkeit zu ertrotzen. Inga fühlte sich ihr überlegen und schämte sich gleichzeitig wie nie im Leben.
»Was für Geld ?«, fragte Erik.
Sie war erwacht, hatte sie gesprochen?
»Der Schuldenberg«, flüsterte sie; wieso bemerkte der Vater den Leutnant nicht, der auf der Fensterbank lümmelte. Er wird mit Schulden nicht leben, dachte sie, ist imstande, die Angelegenheit auf seine Art zu beenden.
»Eine Frage der Ehre!« Sie wollte hoch, Erik legte ihr die Hand auf die Stirn, nahm das Tablett und ging. Als Inga erwachte, stand Marianne im Zimmer und berichtete, Vater habe im Lager vorgesprochen, der Officer wünsche gute Besserung, Inga brauche sich wegen der Stellung keine Sorgen zu machen. Um die Tochter aufzuheitern, erzählte Marianne, in Ingas Abwesenheit müsse nun der Sergeant den ganzen Papierkram tippen. Während Mutters Schritte auf der Treppe verklangen, bemerkte Inga vor dem Fenster freundliche Wolken. Es machte ihr Freude, sie nach Nordwesten ziehen zu lassen, zur Küste und von dort immer weiter; nach einer Weile erreichten sie neues Land und Klippen in Grün und Grau. Inga bildete sich schottische Berge ein, der Leutnant erwartete sie dort. Ingwer und Bier, sagte er und reichte ihr Fruitcake, sie schmeckte Marzipan und Zitrusfrucht. Selbstgemacht! Um ihn herum standen Menschen, so blaà wie er selbst, ein Mann in Bäkkermontur, die bleiche Schwester, Engländerin bis in die Haarspitzen, Inga nahm eine Tasse Tee. Das Haus seiner Familie schien klein zu sein und doch wirkte es, mit Erkern und geschnitzten Giebeln verziert, wie ein SchloÃ. Ein Geräusch an der
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