Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zwischen den Gezeiten

Zwischen den Gezeiten

Titel: Zwischen den Gezeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Wallner
Vom Netzwerk:
den Soldaten sprang Inga ab, übersah die hilfreiche Hand eines Corporals.

    Das Camp befand sich halbwegs in Auflösung. Viele hatten den Marschbefehl erhalten, es ging nach Hause, die Stimmung war nachlässig und aufgeladen. Nur eine Basis sollte zurückbleiben, unter Leitung der Nachschub-Abteilung; das machte Ingas Officer zum Camp-Kommandanten, hielt ihn aber auf längere Sicht von der Heimat fern. Die Abteilung zog in die Baracke des früheren Commanders um, Jasper, der Spaniel, beharrte bellend auf seiner alten Behausung, bis ihm durch Übersiedlung des Futternapfes die Veränderung begreiflich gemacht wurde. Der Officer bekam ein großes Büro und wurde doch mit jedem Tag mißmutiger. Ingas Wiederantritt zum Dienst nahm er mit der Bemerkung zur Kenntnis, bei dem Berg Arbeit sei es das Beste, sie würde vorübergehend ins Lager ziehen. Erleichtert, ihren Problemen für kurze Zeit zu entkommen, stempelte und unterschrieb sie die Formulare, teilte sich selbst ein Zimmer in Baracke D zu, Bettwäsche und sonstiges besorgte sie aus dem Heeresbestand. Es war bereits dunkel, als sie die Akten zuschlug und sich mit ihrem Packen aus Decke, Kissenbezug und Handtuch zur Unterkunft aufmachte. Zwischen den Föhren spürte man schon die Nähe des Sommers, warm wehte der Wind von der Landseite her, ihre Sohlen knirschten auf trockenen Nadeln. Inga bezog die Liege, schlüpfte aus den Kleidern, steckte das Haar mit zwei Klammern fest und wusch sich. Im fremden Bett, auf britischem Territorium, mitten im Wald fühlte sie sich seit langem zum ersten Mal unbelastet; ohne üble Gedanken schlief sie ein und erwachte morgens mit einem frohen Seufzer.
    Die Reduzierung des Camps hatte weitere Folgen. Am Vormittag tauchte die Sekretärin des ehemaligen Kommandanten auf, um persönliche Dinge abzuholen. Inga hatte an der Veränderung keine Schuld, und doch lastete der Vorwurf der Vorgängerin in dem Büro, das sie für immer verließ. Den Papierschwan, Geschenk deren Sohnes, bemerkte Inga erst, als die andere bereits ins wartende Auto gestiegen war.
    Die verringerte Mannschaft benötigte weniger Verpflegung, zwei der sechs Bräter, die Kipp-Pfanne und ein Suppenkessel wurden
stillgelegt; eine einzige Küchenhilfe war nun imstande, das Frühstück für die Hundertschaft zuzubereiten. Sie wärmte zehn Kannen Milch, kochte Kaffeeersatz und Feigenkaffee im Kipper, siebte das Ganze, schüttete es in die Milch und tat Zucker nach Belieben hinzu. Zwanzig Laib Brot, Fett in Würfeln und gelierter Jam standen um Punkt sechs vor der Küche und wurden auf den Transporter geladen; in verschließbaren Eimern hievte die Köchin den Milchkaffee auf die Ladefläche. Bisher war die Arbeit von vier Frauen verrichtet worden, drei erhielten die Kündigung. Daß an den Anstellungen die Existenz von Familien hing, wußten die Engländer, doch lautete die Parole, die Deutschen müßten allmählich wieder für sich selbst sorgen.
    Während der Mahlzeiten zeigte sich die Lage am deutlichsten; das Casino wirkte unsinnig groß, im tristen Speisesaal war jeder dritte Tisch nur besetzt. Auch den Krankenschwestern fiel der Abschied schwer. Eine warf sich dem britischen Arzt weinend um den Hals; er und die Stationsschwester kümmerten sich von nun an allein um Baracke H. Sie war praktisch leer, selbst kranke Soldaten wollten ihre Heimkehr nicht unnötig verzögern.
    Auf dem Rollfeld landeten seit Wochen die ersten Transportmaschinen, luden Gerät und Material auf, Soldaten schichteten Aktenordner zu Hunderten auf den Stapler, das Büromaterial einer Besatzung verschwand festgezurrt in der Ladeluke. Am Abend, als eine dieser Maschinen abhob, stand Inga am Rand der Piste, hielt sich vor dem Dröhnen die Ohren zu und beobachtete die Lichter über den Föhren. Der Pilot zog eine Kurve, schwenkte nach Westen, bald konnte sie die Positionslampen vor dem sternklaren Himmel nicht mehr ausmachen. Langsam ging sie hinaus auf die Startbahn und folgte dem Weg des Flugzeugs. Ihren ungewöhnlichen Marsch begründete sie vor sich selbst damit, Onkels Tischtuch zurückzuholen; in Wirklichkeit war es ein Weg durch die Zeit. Als Inga das erste Mal hier entlang gelaufen war, hatte sie in der eisigen Märznacht gefroren. Der Leutnant im Rollstuhl fiel ihr ein – sie schlenderte zur Baracke, jener ausrangierten Wetterstation,
die er in etwas anderes

Weitere Kostenlose Bücher