Zwischen den Gezeiten
verwandelt hatte. Es überraschte sie nicht, die Hütte verschlossen zu finden, sie rüttelte an der Tür, das Schloà war alt, ein harter Ruck, und es hätte nachgegeben. Inga trat vor das einzige Fenster, drinnen war das schwarze Tuch zur Seite gerutscht. Auf Zehenspitzen starrte sie in den schemenhaften Raum, die Stühle waren seit damals nicht bewegt worden. Dort hatte der Brillenträger gesessen, der dicke, argwöhnische Kerl, gegenüber der Flüsterer, rechts der Platz der Generalin. Wenn Inga die Dunkelheit nicht täuschte, lag auf Alecs Platz ein vergessener Spielstein, helle Scheibe auf dem dunklen Tuch des toten Onkels.
17
M üde erreichte Inga den Garten und öffnete das Türchen. WuÃte man nicht, daà neben dem Gatter etwas begraben lag, war die Erhebung kaum zu bemerken; Rittersporn blühte darauf. Vom Haus kam ihr Henning entgegen, blickte erst auf, als sie fast voreinander standen. Er sah gut aus, braun gebrannt, mit frischem Haarschnitt, er trug einen hellen Anzug. Seit der Nacht in der Firma hatte er Ingas Familie nicht mehr besucht.
»Die Eltern sagen, du wohnst jetzt im Camp.«
»Nicht jede Nacht.«
»Ich habe wegen morgen Bescheid gesagt.« Es klang wie eine Entschuldigung. »Trude kann nicht mit, die Mittelohrsache beim Jüngeren, sie will ihn nicht allein lassen.«
Erst jetzt begriff Henning, Inga verstand kein einziges Wort. Er lachte so hektisch heraus, daà ein Schleimklumpen sich löste und auf ihrem Kleid landete. Er wollte ihn abwischen, fühlte ihre Brust und zuckte zurück. Es geht nicht ums Geld, dachte sie, ich habe sein Vertrauen verloren. Sie nahm seine Hand und küÃte ihn auf die Wange.
»Was ist morgen?«
Mit abgewandtem Kopf trat er zurück. »Hast du die Plakate nicht gesehen? Die Stadt ist voll davon.« Ein Blick zur Ecke, wo sein Auto stand.
Die Spucke lief abwärts und hinterlieà eine Spur; Inga zog ihr Taschentuch.
»Das Chorkonzert«, erklärte er. »Trude ist im Komittee. Sie
hatte eine hübsche Stimme, aber seit die Jungs da sind, hat sie aufgehört.«
Noch nie hatte Henning so viel über Trude gesprochen. Inga wischte über die dunkle Stelle am Busen.
Er lächelte. »Im Chor war sie immer glücklich.«
Die Musik fiel ihr ein, der alte Mann mit dem Besen, all die Frauenstimmen. »Kommen die Eltern denn mit?«
»Marianne freut sich so«, nickte er.
»Warum lädst du mich nicht ein?« Sie näherte sich ihm kein zweites Mal.
»Ich dachte â deine Pflichten in der Kommandantur â« Sein Ton klang aufgesetzt. »Es ist unmöglich«, bekannte er. »Trude ist im Komittee.« Ohne ein weiteres Wort öffnete er das Gatter und ging.
Mit dem Taschentuch in der Hand kam Inga sich vor wie eine verlassene Geliebte. Alles tat ihr unendlich leid, ihr Gefühl für Henning wurde übergroÃ, sie sprang zum Zaun und wäre ihm hinterhergelaufen. Der mintgrüne Wagen bog bereits um die Ecke, Henning hielt den Blick auf die StraÃe gerichtet. Ernüchtert ging Inga ins Haus.
Von oben war ein Rattern zu hören, Marianne saà im Ankleidezimmer. Inga schlüpfte aus den Schuhen und schlich auf Strümpfen hinauf. Ihre Hand glitt zwischen den Stoffen entlang â gestärkte Blusen, ein Kostüm aus gemusterter Wolle, der schwarze Seidenmantel, den Marianne vor dem Krieg zu festlichen Anlässen getragen hatte. Ein Stück nach dem andern schob Inga auf der Stange beiseite, als blättere sie in der Vergangenheit ihrer Mutter. Taftröcke, das Graue aus Musselin, jenes Samtkleid aus einem alten Tischtuch geschneidert. Sie schlug den Filzvorhang beiseite, lief die drei Stufen nach unten und trat ein. Die Mutter saà über den Stoff gebeugt, ihre Finger lieÃen ihn durch die Maschine gleiten; mit dem kranken Bein bediente sie das Tritteisen.
»Was soll das werden?«
Das Auf und Ab der Nadel stockte, auf die Stuhllehne gestützt,
wandte Marianne sich um. »Du bist schon daheim?« Sie drehte das Schwungrad, die Nadel setzte sich in Bewegung, ein Stück Stoff verschwand zwischen ihren Händen, durchscheinendes Tuch. »Eine Schalstola«, antwortete sie und begutachtete die abgesteppte Stelle. »Ich weià nicht, wie lange es her ist, daà ich auf einem Konzert war.«
»Ihr geht also hin.« Am Nähtisch vorbei trat Inga ans Fenster.
Marianne zog den Stoff zum Mund
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