Zwischen den Gezeiten
Statue näher schob, griff der Pferdedoktor nicht zu.
»Mir ist, als hätte ich sie schon einmal gesehen.« Das Auge wurde schmal.
»Ein Unikat«, widersprach Marianne. »Der Bauer hat keinen Blick dafür. Du weiÃt so eine Kostbarkeit zu schätzen.« Hilfesuchend wollte sie Erik mit einbeziehen, mit verschränkten Armen zeigte er an, daà er die Verhandlung ihr überlieÃ.
»Und der Preis?« August leckte die Zahnreihe entlang.
»Bis jetzt hast du uns jedesmal einen Vorschlag gemacht.«
»Schwierig bei diesem Stück.« Er zog die Statue am Sockel
heran, drehte sie, glitt mit dem Finger über eine gesplitterte Stelle, bewegte das Christuskind und nannte die Summe.
Marianne sah zu Erik, der stumm vor Enttäuschung die Hände in den Taschen vergrub.
»Antiquitäten gehen nicht mehr so wie nach dem Krieg«, besänftigte August. »Höchstens Barock und Empire, Gotik ist den Leuten zu deutsch.« Er nahm eine Zigarre aus der Schachtel und rollte sie zwischen den Fingern.
Marianne legte entschieden die Hand auf den Tisch. »Nein.« Sie schloà die Strickjacke über der Brust.
»Ich könnte sie in Kommission nehmen.« Das Auge fixierte die Zigarre seitlich, er hielt die Flamme daran, eine Rauchwolke stieg zur Decke. »Wenn jemand mehr dafür bietet â«
»Wir brauchen es gleich«, antwortete Marianne nüchtern, die Lust am Handeln war ihr vergangen.
August öffnete die Schublade und entnahm ein Bündel Banknoten, dasselbe, das ihm Inga vor Tagen gebracht hatte. Die Zigarre im Mund, legte er das Geld in die Mitte des Tisches. »Verkaufe ich, bekommt ihr mehr.«
Vor Marianne das Geld, daneben die Statue, der Vater verharrte in der Fensternische. Sie nahm die Scheine, reichte sie an Erik weiter, er verstaute sie in der Brusttasche. Ein knapper GruÃ, August machte die Andeutung aufzustehen, die Eltern gingen. Kehrten zu dem geborgten Karren zurück, Marianne stieg auf, das linke Bein lieà sie im Stich, Erik fing sie, bevor sie strauchelte. Müde setzte er sich daneben, band den Strick los, der Esel röhrte; nach einem Hieb mit der Gerte machte er den ersten Schritt.
19
S ie hörte das mintgrüne Auto anfahren, blieb liegen, die Hände mit abgespreizten Fingern ausgebreitet, die Nägel waren noch nicht getrocknet. Inga überlegte, ob die drei im Wagen sich während der Fahrt Mühe gaben, nicht über sie zu sprechen. Sie überlieà sich der Schläfrigkeit, nickte ein, sprang im Erwachen auf und lief ins Ankleidezimmer.
Heute führte sie das nachtblaue Kleid wie selbstverständlich aus, schlenderte darin die StraÃe hinunter, den Stoff gerafft, eine Windjacke um die Schultern, Mutters Handtasche unterm Arm. Vom Westen zogen schwere Wolken heran.
Der Auftritt begann lange vor dem Konzert. An der nächsten und allen kommenden Kreuzungen begriff Inga allmählich â eine Stadt ging aus. Keine ausrangierten Armeeröcke mehr in den Gassen, nicht die durchgescheuerten Hosenböden und ausgetretenen Schuhe â die Anzüge und Kleider, denen sie begegnete, hatten jahrelang in Schränken gehangen, nun durften sie wieder ans Licht. Was zu weit geworden war, hatte man enger gemacht, Säume und Borten angesetzt; wo Schuhwichse fehlte, war Speckschwarte benützt worden. Nicht alle Knöpfe paÃten zueinander, Hemdkragen waren ausgefranst, an manchen Rockaufschlägen entdeckte Inga das kleine Mal, wo das fehlende Parteiabzeichen seine Spur hinterlieÃ. Wer sie nicht versetzt hatte, hängte die silberne Uhr an den Bauch, Ohrringe und Broschen wurden durch die StraÃen getragen, die guten Stücke, die dem Schwarzmarkt unter Opfern vorenthalten worden waren. Bereits wenige hundert Meter von Zuhause
entfernt, wurde Inga von Leuten umringt, die endlich wieder Gesellschaft sein wollten, erpicht waren darzustellen, was ihnen lange nicht erlaubt gewesen war. Heftpflaster hielt manchen Brillenbügel zusammen, die alten Rasierklingen verursachten Schnitte in den Männergesichtern, aber Herren wie Damen hatten Sorgfalt auf ihre Frisur verwendet â Haarfett, das Männerhaar in Form zwang, freie Stirnen, blondierte Wellen, geputzte Hälse, gezupfte Damenbärte und Brauen.
Eine Militärstreife begegnete ihnen, die Tommies schoben die Helme zurück und bestaunten den Aufmarsch der Bürger. Wo kamen all die adretten Deutschen her, der
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