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Zwischen den Gezeiten

Zwischen den Gezeiten

Titel: Zwischen den Gezeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Wallner
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Gleichgesinnten vor dem Seidlerhaus auftauchten, Einlaß forderten und zu wüten begannen. Zum ersten Mal in all den Jahren sah sie ihren Vater als Vandalen.
    Es war schon so lange still, daß Mariannes Griff nach den Zigaretten Inga hochfahren ließ. »Und wenn ihr euch weigert?« Sie stellte die Frage an die Mutter.
    Ohne ihre Gewinnsumme zu notieren, verstaute Marianne die Spielkarten in der Schachtel. »Papas Rente steht auf dem Spiel. Eine Anzeige, ein Brief ans Oberkommando –«
    Â»Ich glaube nicht, daß sie so weit geht«, warf er mit besorgter Stimme ein. »Die Seidler möchte wieder dazugehören, will Fuß fassen in der Gemeinde.«
    Â»Sei nicht naiv«, unterbrach sie ihn. »Ein wenig Druck auf die Reichsbahn, und sie streichen dir die Rente von heute auf morgen.«

    Ihre Finger mit den Streichhölzern, der gesenkte Kopf des Vaters, in seinen Händen wirkten die Karten wie Miniaturen.
    Â»Bis wann braucht ihr das Geld?«
    Â»Damit hast du nichts zu tun!« Marianne betonte jedes einzelne Wort.
    Â»Sie gibt uns Zeit bis zum zwanzigsten Juni«, antwortete Erik.
    Inga stand auf und ging; in ihrem Zimmer markierte sie den zwanzigsten auf dem Kalender. Sie schrieben den dritten Juni.

22
    I nga saß an der Maschine, die Finger vollführten die Arbeit mechanisch, ihr Blick war auf den Stenoblock gerichtet – in Wirklichkeit sah sie Erik an Mariannes Schulter; er hielt die Brille in der Hand, mit der anderen rieb er sich die Augen und weinte. Die Mutter legte das Buch beiseite, aus dem sie ihm vorlas, hielt seinen großen Kopf, beide bemerkten nicht, daß das achtjährige Mädchen sie beobachtete. Später hatte Inga das Buch, das ihren Vater zum Weinen brachte, mit aufs Zimmer genommen. Es waren Geschichten, die meisten spielten am Meer; sie las eine nach der anderen, weinen mußte sie darüber nicht.
    Manchmal hatte Inga zugesehen, wie der Vater am Herd stand und in den Sonnenball starrte, der die Küche abends glühend erfüllte; Tränen waren dem Vater von den Wangen getropft. Es rührt ihn schnell etwas an, hatte der tote Onkel gesagt.
    Inga hob den Kopf – sie konnte sich nicht erinnern, daß der Vater sie jemals geschlagen hätte. Die Ohrfeigen hatten Horst und sie von der Mutter bekommen. Der Vater war nicht gegen Härte, er mied sie lediglich; ihm lag das Milde, Eindrücke, die das Herz erwärmten, er schwelgte gerne. Es muß die Romantik gewesen sein, dachte Inga, zog das Papier halb aus der Walze, überlas die letzten Sätze und fuhr mit zusammengekniffenen Lippen fort, da die Zeile um eine Buchstabenhöhe verrutscht war. Der Männerzauber, die alten Gesänge packten ihn, er liebte Märchen von übernatürlicher Kraft, Heldenmut, Opferbereitschaft. Trotz der Brille, dick wie Flaschenglas, war Erik so ein Herzensheld; wäre die Zeit eine
andere gewesen, hätte man ihn im Wald, in den Dünen umgehen und unlösbare Aufgaben bewältigen sehen. Tagsüber herrschte er über die Geleise, die unter seinem Fenster vorüberführten, überwachte Verladerampe und Personenabfertigung, kontrollierte die Sauberkeit des Waschraumes, maßregelte seine Beamten, wenn sie trotz Warteschlange den zweiten Schalter nicht öffneten. Inga sah Erik im Reichsbahnrock, freundlich und bestimmt, er kannte nicht nur den regionalen Fahrplan auswendig – Föhrden lag abseits der Hauptlinien –, auch das Verbindungsgeflecht von der östlichen hinüber zur Nordseeküste hatte er im Kopf. Mit niedergehender Sonne wandelte sich Eriks Arbeitsplatz in einen Ort gleißender Eisenstränge, die in die Ferne führten; dann stand der Unifomierte an der Spitze des Perrons, Horst an der Hand, das Mädchen auf dem Arm und zeigte zum Horizont. »Büsum, sieben Uhr siebzehn«, murmelte er die Endstation des Abendzuges am Meer.
    Inga erinnerte sich an eine Szene, als sie fünf Jahre alt war. Eines Morgens hatte sie sich voll wilder Zärtlichkeit an ihren Vater gehängt. Er war noch nicht angezogen, trug nichts als die Schlafanzughose, der Gummizug hatte nachgegeben, Inga war samt Hose zu Boden gerutscht. Die Familie zeigte sich einander nie unbekleidet, selbst beim Baden nicht, daher erinnerte sich Inga an Vaters Nacktheit als etwas Einmaliges. Auf dem Boden kauernd, hatte das kleine Mädchen an seinem enthüllten Körper emporgestarrt, die trainierten

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