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Zwischen den Gezeiten

Zwischen den Gezeiten

Titel: Zwischen den Gezeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Wallner
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war ich höchstens sechs oder sieben. Aber ich erinnere mich an das leuchtende Rot, den Lärm, der mit den Fahnen einherging, auch im Radio, immer Lärm.« Ihr wurde schwindelig. »Mama sorgte dafür, daß sie in unser Haus nicht kamen.« Inga stützte sich ins Gras. »Was hat Papa gemacht?«
    Â»Frau Seidler sucht alle auf, die an der Sache beteiligt waren.« Henning verschränkte die Arme. »Erik braucht Geld, und ich kann ihm beim besten Willen keines geben.«
    Â»Wegen mir?« fragte Inga in der Gewißheit, daß es so war.
    Hennings Finger umkrampften die Arme. »Trude hätte nichts dagegen, einem Freund in Not zu helfen. Aber nicht euch – nicht deiner Familie.« Er sprach so leise, daß sie sich vorbeugen mußte.
»Das hat nichts mit dir zu tun«, beantwortete er ihren betroffenen Blick. »Trude war immer dagegen, sie hat diese Leute gehaßt.« Sein Gesicht bekam einen bewundernden Ausdruck. »Als die Engländer uns die Fabrik nehmen wollten, ging sie allein ins Hauptquartier und überzeugte die Briten …«
    Â»Ich weiß«, unterbrach Inga, sie kannte die Geschichte der heldenhaften Trude, die Hennings Existenz gerettet hatte. Aus dem Gras drang die Feuchtigkeit durch ihren Rock, es wurde zum Sitzen zu kühl.
    Â»Als Bahnhofsvorsteher hätte dein Vater die braune Uniform nicht zu tragen brauchen.« Henning sah sie an. »Die sind im Klingklang durch die Stadt marschiert. Zum krönenden Abschluß mußte jemand aufgemischt werden – in dieser Nacht hielten sie vor dem Seidlerhaus. Es wurde beschimpft, geschlagen und geplündert. Kurz darauf zogen die Seidlers hier fort.«
    Inga fuhr hoch. »Papa hat nicht geschlagen«, rief sie. »Er hat viel zuviel Angst um seine Brille!«
    Henning lachte, doch es klang unecht. »Das befreit Erik natürlich von jedem Verdacht.« Er stand auf, nebeneinander gingen sie zum Auto. Inga strauchelte in der Traktorspur, er stützte sie. Im Zwielicht wirkte der Wagen hellgrau. Auf der Rückfahrt schwiegen sie, vor dem Garten versicherte Inga ihm, er werde sein Geld wiederbekommen. Hastig ließ er sie aussteigen und fuhr weiter, bevor jemand im Fenster auftauchte. Bedrückt betrat Inga das Haus.

21
    K ein deutscher Feiertag, keine Jubelmeldung aus dem Radio, auch kein Familienfest – der Leutnant trat seitlich ans Fenster -, vielleicht feierte dort das Hotelpersonal; doch dafür waren es zu viele. Junge und Alte, eine lose Zusammenkunft, als ob sie einander kaum kannten. Sie stießen an, scheinbar auf kein Ereignis, ein deutscher Sender spielte amerikanische Musik, das Gerät erfüllte den Häuserschacht mühelos. Getanzt wurde nicht, nur zwei junge Frauen hielten sich um die Taillen und wippten mit den Hüften – der Leutnant ließ den Vorhang fallen. In letzter Zeit machten Geräusche ihn wütend, besonders Musik. Er schloß die Uniformjacke; bevor er das Licht löschte, fiel sein Blick auf die Haarspange, das Perlmutt schimmerte.
    Der Läufer auf dem Korridor dämpfte seine Schritte, der Leutnant mochte es, sich selbst nicht zu hören, leise wie eine Erinnerung ging er die Treppe hinunter. Am Empfang saß niemand, ungesehen verließ er das Hotel.
    Das Enge, Hingeduckte kannte er aus den Städten daheim, das Akkurate dieser Häuser aber, die Art, wie die Quader aufeinandergeschichtet waren, die Farben, selbst die abgetretenen Stufen – nirgends ließ sich das Deutsche so deutlich packen wie hier. Kein Schnörkel besaß Leichtigkeit, Ornamente des Dauerhaften waren es, das Ewige als Manier. Er hatte angenommen, durch den Kriegsausgang seien diese Festungen ins Wanken geraten, ein Irrtum, nichts hatte sich geändert, selbst die Pflastersteine behielten ihren unverwechselbaren Klang. Der Leutnant fürchtete, in der fremden Stadt schon zu heimisch geworden zu sein.

    Wenige Blocks hinter dem Schloß fing das Rautjesviertel an; obwohl es weder Laden noch Marktbude beherbergte, war es die Geschäftsader der Stadt. Die Arme auf den Rücken geschlagen, erwartete er das Gemurmel – Männer und Frauen wie Schauspieler, die sich auf ihren Auftritt vorbereiteten. Obwohl er nichts kaufen wollte, spitzte er die Ohren. Nähgarn, lautete das Angebot einer Frau im Schürzenkleid, ihr Kopftuch verdeckte eine Schläfenwunde, Torpedoöl, sagte einer mit Strohhut, Büchsenkaffee,

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