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Zwischen den Gezeiten

Zwischen den Gezeiten

Titel: Zwischen den Gezeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Wallner
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zusammenzustellen.
    Nebenan hörte sie den Kommandanten summen, sein Schatten bewegte sich vom Schreibtisch zur Wand beim Fenster, dort hing die Photographie seines Bootes. Seit Monaten träumte er davon, an die südenglische Flußmündung zurückzukehren, wo seine Jolle lag. Oh fairy bride of Sussex  – mit dem Lied beschwor er seine innere Abwesenheit vom Lager und allem, was ihn umgab: dem eintönigen Dienst, der Fremde. Summend wandte er sich vom Fenster zum Geldschrank, kehrte um – er hatte kein Gedächtnis für Zahlen –, zog die Arbeitsunterlage aus der Schreibtischplatte heraus, wo die Kombination notiert stand. Der Schlüsselbund klirrte, Inga hörte das Aufschnappen der schweren Bolzen. Der Kommandant brauchte nichts Offizielles aus dem Tresor, die nächste Auszahlung stand erst in Tagen bevor, geheime Akten waren längst ins Königreich abtransportiert worden. Doch hatte er eine Sammlung von Postkarten und Photographien im Geldschrank liegen – der Sergeant hatte es Inga erzählt. Vor dem Krieg war der Officer
durch die englischen Midlands gereist, mit einer Frau, die nicht seine Gattin war. Er hegte dieses Reisejournal, blätterte gerne in der kleinen Mappe und hielt sie unter dienstlichem Verschluß.
    Braune Zettel wanderten von Ingas rechter Seite nach links. Sie hatte den Kommandanten beinahe vergessen, als sie das Zufallen der Eisentür hörte, das Schlüsselklirren und seine Rückkehr zum Schreibtisch. Nun, da er sich von der Erinnerung hatte fortragen lassen, würde es ihn nicht lange im Zimmer halten. Er nannte das tägliche Umherstreifen zwischen den Föhren seinen Kontrollgang, den Hund an der Leine, war es der traurige Marsch durch ein Lager, dessen Auflösung er exekutierte.
    Angesichts des Bergs unbearbeiteter Zettel, den Inga nach mehrstündigem Auflisten noch vor sich hatte, entschied sie, die Arbeit am nächsten Tag zu beenden, beschwerte loses Papier mit dem Lochgerät, ordnete ihr Haar und verließ die Baracke. Als sie das mintgrüne Auto erkannte, blieb sie erschrocken stehen.
    Henning lehnte an der Schranke, seine Augen waren ernst. Er öffnete ihr die Wagentür, wie eine Delinquentin stieg sie ein. Henning nahm nicht die Richtung zur Stadt, sondern steuerte zwischen den Weiden ins Land; das Verdeck war offen, doch ihr Ausflug hatte nichts von einer Spazierfahrt. Er hielt, sie erkannte den Hochsitz wieder, das Gras war geschnitten worden. Inga machte einen Schritt zum Holzturm, er hielt sie an der Schulter fest.
    Â»Hast du das Geld für die Eltern genommen?« Sein Gesicht war offen, die Augen voll Wärme, am liebsten hätte sie Ja gesagt.
    Â»Die Eltern?« schüttelte Inga den Kopf.
    Â»Von mir erfahren sie es nicht. Aber um Trudes willen muß ich wissen, was geschehen ist.« Sie standen auf dem Grün, das in der Dämmerung grau und verschwommen wurde. »Hast du das Geld für die Eltern genommen?«
    Inga antwortete in aller Ehrlichkeit, daß sie Schulden begleichen mußte, auch ihm würde sie alles zurückzahlen. Sie spürte, das wollte er nicht hören.
    Â»Die Eltern müssen mit dir darüber gesprochen haben.« Er ging
in die Hocke, prüfte, ob das Gras trocken war, und setzte sich. »Diese Frau fühlt sich im Recht. Sie besteht darauf, alte Rechnungen zu begleichen.«
    Â»Welche Frau?« Dicht vor ihm kam Inga auf die Knie.
    Er suchte in ihren Augen, ob sie ihm etwas vorspielte. »Man muß sich das vorstellen – als Vertriebene verläßt sie die Stadt und kommt Jahre später mit den Engländern zurück.«
    Â»Die Eltern haben mir kein Wort erzählt«, bekannte Inga. »Welche Frau?«
    Â»Elfriede Seidler.«
    Ingas Blick glitt den Horizont entlang. »Als ich krank war, kam sie zu Besuch.« Im letzten Licht begriff man, daß das flache Land sich an den Rändern wölbte; sie saß auf einem mächtigen Ball, und es bestand die Gefahr, daß sie herunterfiel. »Was haben wir mit Frau Seidler zu tun?«
    Â»Es ist nicht erwiesen, daß Erik dabei war.« Henning deutete auf eine Heuschrecke, die Inga auf die Schulter gesprungen war. »Frau Seidler erinnert sich aber mit Bestimmtheit an ihn.« Inga verharrte reglos, das Insekt rieb die Beine aneinander.
    Â»Weißt du noch, wie es war, als es mit den Aufmärschen losging?«
    Sie betrachtete die Kuhle ihres Schoßes. »Damals

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