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Zwischen den Gezeiten

Zwischen den Gezeiten

Titel: Zwischen den Gezeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Wallner
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Eipulver  – der Leutnant hatte die Hälfte der Straße erreicht -, Lederpolster, RIF-Seife. Waren tanzten als Worte, doch die Vielfalt von früher war verschwunden.
    Zur erwarteten Zeit fand er den Mann an seinem Stammplatz, er trug den leichten Mantel wie eine Uniform. Als sei ihm die Angelegenheit eilig, beschleunigte der Leutnant und sprach den Mann an.
    Ãœberrascht, doch sofort bereit, die Möglichkeit zu ergreifen, drehte der sich um. »Hast du es?« fragte er in derbem Englisch.
    Der Leutnant verneinte.
    Â»Was willst du dann hier?« Der Mann schlug den Mantel zurück.
    Der Leutnant stand ihm gegenüber, einen Fuß vor dem andern, die Mütze in die Achselklappe geschoben; er wartete die Reaktion des anderen ab.

    Erik hatte die Karten in einem komplizierten System aufgelegt, ließ die Reihen wachsen, hegte und sortierte sie. Mariannes Strategie bestand im Kopf, sie behielt die Karten im Blatt, um sie später mit einem Handstreich auszuspielen.
    Â»Wollte Henning nicht hereinkommen?« Die Eltern hatten die Lampe abgedreht, drei Kerzen erhellten den Tisch.
    Â»Er hat mich vom Lager heimgebracht.« Inga setzte sich.
    Erik legte die Herz-Dame ab, die Mutter zögerte.
    Â»Damen mußt du doch haben«, animierte er sie, das Paket zu
nehmen. Sie hob ab, legte den Sperr-Dreier obenauf; das Fehlen von Jokern auf dem Tisch ließ Inga vermuten, daß Marianne die Trümpfe hortete. Sie steckte zwei Karten von links nach rechts.
    Â»Warum laßt ihr euch erpressen?« fragte Inga in die Stille. Bis zu diesem Moment war sie sich ihres Gefühls nicht sicher gewesen, nun erkannte sie es als Empörung.
    In exakter Linie legte Erik den sechsten Buben auf die Kolonne, noch einer, und er würde das Canasta schließen – falls Marianne mit ihrem Blatt nicht niederkam. »Wir hätten Henning nicht hineinziehen sollen«, sagte er, als sei die Tochter gar nicht im Raum.
    Â»Keine Erpressung«, antwortete die Mutter, erleichtert, daß Inga das Thema berührte. »Frau Seidler betrachtet es als Wiedergutmachung.«
    Â»Wieviel will sie?«
    Marianne sortierte ihr Blatt, die Offensive stand kurz bevor. »Ich begreife nicht, warum August für die Madonna nicht mehr geben will.«
    Â»Ihr habt sie zurückgebracht?« Inga faßte unter die Bluse, mit einem Mal schien der Büstenhalter zu eng.
    Â»Vierzehntes Jahrhundert«, schüttelte die Mutter den Kopf. »Er kann mir nicht weismachen, dafür wäre kein Preis zu erzielen.«
    Marianne war mit den Karten, Erik mit der hereinbrechenden Katastrophe beschäftigt, beide bemerkten nicht, daß Inga sich eben verplappert hatte. Die Mutter präsentierte ein Joker-Canasta, ein reines aus Achten und allerlei Kleinzeug.
    Â»Nicht schon wieder!« empörte sich der Vater.
    Â»Wenn du es kommen siehst, wieso tust du nichts dagegen?« Sie legte die Deckkarte auf den Stapel.
    Â»Bei meinem Blatt?« Mit hängenden Schultern begann er die Miesen zu zählen.
    Â»Sind die Seidlers Juden?« fragte Inga.
    Â»Natürlich nicht.« Die Eltern sahen sich an. »Der alte Seidler war ein stadtbekannter Sozi«, antwortete Erik.

    Â»Sie verlangt eine Entschädigung.« Nüchtern fächerte Marianne ihre Karten. »Was sie wirklich will, ist nicht Geld, sondern das Eingeständnis von Schuld.« Die Mutter sah Erik nicht an.
    Â»Gibt es die? – Gibt es Schuld, Papa?«
    Er legte ein Paket zur Linken, wollte die Summe notieren, hatte sie vergessen und begann von neuem. »Ich weiß es nicht mehr.« Er strich über die Stirn, wie um ein Insekt zu verscheuchen. Schließlich schüttelte er den Kopf, die vergrößerten Augen huschten hinter den Gläsern umher. »Keine Ahnung.«
    In diesem Moment wußte sie, es war die Wahrheit. Die verstaubten Alben auf dem Speicher, die Photographien, der Führer in Öl – zu perfekt hatte der große Vater in deren Reihen gepaßt. Die Habichtnase, das kräftige Kinn, stolz und offiziell war er in der Uniform aufgetreten, der Goldfasan, ein starker Kerl, wie man sie liebte. Hatte er nicht gesehen, daß er mit seiner faltenlosen Uniform, den geordneten Tressen, ein Aushängeschild war? Im Schlaglicht der Fackeln, enthemmt vom Bier, hatte er mitgemacht; der makellose Krawattenknoten gab ihm die Legitimation, sich als Ordnungsmacht aufzuspielen. Inga stellte sich vor, wie er und die Horde der

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