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Zwischen den Gezeiten

Zwischen den Gezeiten

Titel: Zwischen den Gezeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Wallner
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Ihr Haar war strähnig, die Bluse nicht frisch, im Lager kam sie nicht dazu, sie zu waschen. Den Rock trug
sie bereits eine Woche. Schließlich sank er wieder aufs Kissen, legte die Arme neben den Körper und streckte sich bis in die Fingerspitzen. Draußen entfernten sich die Schritte. Die Konturen verschwammen, sanftes Grau breitete sich aus, sie saß da, bis das Licht der Außenlaterne die Dunkelheit in der Baracke fraß. Als Inga aufstand, bewegte der Leutnant sich nicht.

23
    S eit Tagen war Hemderleichterung ausgegeben worden, die Drillichjacken blieben im Spind, kurzärmelig lümmelten die Männer vor der Kommandantur. Die Unteroffiziere hatten das Recht, sich vor den niederen Chargen anzustellen, aber die Rangordnung interessierte kaum noch.Im Hinschleichen der Tage bedeutete der Zahltag den Höhepunkt ihres Monats, sie verlängerten ihn, so lange sie konnten. Manchmal formte sich eine Reihe, meistens standen sie in Gruppen, das Wetter war Thema – und England. Plötzlich bemerkte Inga den jungen Flieger, allein an einen Baum gelehnt; der Dieb nickte ihr grüßend zu. Sie erinnerte sich, von seiner Entlassung gehört zu haben; man wollte die Verfehlung nicht hochspielen, er war nicht degradiert, lediglich versetzt worden. Nun betreute er die Flugzeugtankstelle, was ihn so gut wie arbeitslos machte. Sinnlos wartete er die Apparaturen, falls eines Tages doch wieder Starts und Landungen stattfinden würden; mit dem letzten Abheben einer Maschine hoffte er selbst auf die Insel zurückzukehren.
    Ein behäbiger Corporal trat vor – Inga besann sich auf die Abrechnung, händigte ihrem Sergeant den nächsten Umschlag aus, er prüfte den Inhalt und reichte ihn an den Corporal weiter. Während der mit gewölbten Lippen die Scheine zählte, bemerkte sie eine Tätowierung auf seinem Unterarm – ein Schwert, das einen Kranz durchstieß, umrahmt von der Schrift Scotland forever. Inga machte das Häkchen auf der Liste. Zum ersten Mal seit sie bei den Briten Dienst hat, weckte die fremde Sprache ihre Auflehnung; im deutschen Wald wollte sie solche Töne nicht länger hören.

    Auch in der Stadt war die Stimmung mit einem Mal greifbar, der Überdruß, bevormundet zu werden. Offen wurde darüber gesprochen, wann die Engländer endlich abzogen. Die Verhandlungen in Frankfurt, der Austritt der Sowjets, der Zusammenschluß der Restmächte, jede Aussicht auf Veränderung verstärkte dieses Gefühl von Widerstand. Inga fiel Frau Seidler ein; im Schutz der Sieger war sie zurückgekehrt, nutzte deren Kriegsrecht, um Ingas Familie zu bedrohen. Erik war nie im Kampf gestanden, hatte weder getötet noch geplündert, sein Vergehen bestand im Glauben an etwas, das er als Neuordnung begrüßte. In diesem Moment verurteilte Inga nicht den kindischen Hang ihres Vaters zu Pracht und feierlichem Schein, sondern die Erpressung jener Frau, die den Kriegsausgang für ihren Profit nützen wollte.
    Die Sonne kletterte zwischen den Föhren empor, gleich würde sie auf das geteerte Dach niederbrennen, das die Hitze nicht abhielt, sondern im Inneren staute. Ein deutscher Zimmermann, zuständig für Reparaturen an den Baracken, erhielt ein prall gefülltes Kuvert – Geld, so wertlos wie das Papier, das er hinaustrug. Umschlag für Umschlag reichte Inga an den Sergeant weiter, ihr Blick wanderte von den blaugrünen Pfundnoten zu den braunen Reichsmarkscheinen, rechteckige Stapel aus Papier, die abnahmen, während es in der Baracke mit jeder Minute heißer wurde. Schweiß rann ihre Wirbelsäule entlang, das Haar hing in die Stirn, sie versuchte die Unterhaltungen zu überhören, dumme Anspielungen auf ihre feuchte Bluse, das Lachen und Lärmen – es war ein Zahltag wie viele zuvor. Einen Monat blieb das Geld nun im Stahlschrank, deutsche und englische Noten, dazwischen das Bildertagebuch des Kommandanten, die kleine Mappe voller Erinnerungen.
    In der Mittagspause floh sie zu dem schweigsamen Leutnant. Die Schwester hatte seine Verbände gewechselt, der weiß vermummte Schädel lag auf dem Kissen, nur die Augen bewegten sich. Inga leerte die Bettpfanne, schüttelte das Kissen auf, hantierte in der verwaisten Krankenstation, als wäre es ihr gemeinsames Heim. Die Schwester hatte in der Küche Bescheid gesagt, Inga lief
ins Casino und kam mit der Mahlzeit des Leutnants zurück. Unter

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