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Zwischen den Gezeiten

Zwischen den Gezeiten

Titel: Zwischen den Gezeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Wallner
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Beine, das beutelförmige Geschlecht betrachtet – so wurden Helden gemalt und gemeißelt, dachte Inga an ihrem Schreibtisch, so sieht mein eigener Vater aus.
    Langsam, da die Blaupause gerne verschmierte, zog sie das Papier aus der Maschine, trennte Original und Durchschlag, klappte die Mappe zu und fragte, ob sie in die Mittagspause dürfe.
    Â»Gehen Sie nur.« Ohne sich umzudrehen, verharrte der Kommandant in der Hocke und kraulte den Bauch des winselnden Jasper.
    Sie trat ins Freie, selbst der dünne Baumwollstoff war an diesem Tag zu warm. Der Sommer überraschte das Land, die Soldaten
packten die Shorts zur Uniform aus, weiße Waden und Knie marschierten an Inga vorbei.
    Den Kartoffelbrei, den der Koch ihr anbot, lehnte sie ab, er klatschte ihr trotzdem eine Kelle voll auf den Teller. Sie nahm nichts von der braunglänzenden Tunke, statt dessen Äpfel und Brot aus dem Korb. Neben ihr kippte das Tablett der Stationsschwester, die versuchte die Limonadenflasche noch vor dem Sturz zu bewahren, sie ging zu Bruch. Lustlos drehten sich im Casino Köpfe herum, das Lachen eines Soldaten hallte im Saal. Inga kam neben der Schwester in die Hocke, die warnte vor den Scherben, schon hatte sich Inga geschnitten. Den Saucenschöpfer in der Hand, schaute der Koch über den Tresen.
    Auf dem Weg zwischen den Föhren hielt sie die Hand hoch und versuchte umsonst, ihr Kleid vor Flecken zu bewahren; das Blut rann den Arm entlang. Als sie die Lichtung mit den Hagebutten erreichten, sagte die Schwester, wie sehr sie sich auf den Sommer freue.
    Â»Er ist übrigens wieder da.« Sie zeigte zum schwarz gemalten H auf der Baracke.
    Inga senkte den Arm, neben ihr tropfte es in den Sand. Sie fragte nicht, wer gemeint war, folgte der anderen durch den Haupteingang. Die Schwester verarztete den Schnitt im Medikamentenzimmer; rund um den Mull verfärbte sich die Haut von der Jodtinktur.
    Â»Was ist passiert? Wieder das Bein?«
    Die Schwester schüttelte den Kopf. »Eine Prügelei, möglicherweise ein Sturz. Willst du ihn sehen?«
    Â»Gestürzt?« Inga hielt den Finger hoch.
    Â»Aus großer Höhe, meint der Arzt.« Die Schwester klebte Heftpflaster auf die Binde.
    Inga sah den Leutnant vor sich, wie er die Uniform adjustierte und loszog, um die Angelegenheit auf seine Art zu beenden. Hier, wo alles flach war, wählte er eine Stelle, wo er es aus großer Höhe tun konnte. Im Umkreis gab es dafür nur die Kirchenruine, das Getreidesilo,
das Schloß. Sie sah ihn hinaufsteigen, die Krawatte zurechtziehen, er sprach kein Gebet.
    Â»Hat er denn nichts erzählt?«
    Â»Er kann kaum sprechen.« Die Schwester schaute zum Krankenzimmer. »Der Kiefer ist gebrochen.«
    Gemeinsam gingen sie hinüber, bis auf das fünfte Bett war die Baracke leer. Der Leutnant lag da wie am ersten Tag, zugedeckt bis zur Brust, die Hände gefaltet, der Verband wand sich vom Schädel bis unter den Hals. Es sah nicht aus, als sei er geschlagen worden, sein Gesicht war verformt. Durch die Schwellungen und Blutergüsse erschienen Inga die Züge wie im Zerrspiegel, das Wangenbein mußte gebrochen sein, die rechte Seite wirkte, als gehörte sie einem anderen. Sie betrachtete die langen Finger.
    Â»Wenn man fällt, fängt man sich mit den Händen.«
    Die Schwester bemerkte den Blick auf die unverletzten Hände. »Nicht, wenn er ohne Bewußtsein war.«
    Â»Ich würde gerne ein wenig bleiben.«
    Wortlos ging die Schwester in die Sonne, man hörte, wie sie sich auf die Terrassenbohlen setzte. Inga zog einen Stuhl heran, berührte das Laken, unter dem sein Körper lag. Er atmete gleichmäßig, trug ein frisches Krankenhemd, man sah die Bügelfalte. Ihr fiel das Stück Brot in der Tasche ein, sie setzte sich und kaute. Leicht strich die Luft durch den Raum, Insekten sirrten vor dem Fenster. Einige Zeit später bewegte sich seine Hand millimeterweise.
    Â»Was haben die mit dir gemacht?« Inga wischte Brotkrumen von der Decke. Der Leutnant rührte sich nicht, sie lehnte sich wieder zurück.
    Allmählich erschien das weiße Laken blau, vor der Tür tanzte das schwindende Tageslicht. Normalerweise wurde um diese Zeit das Licht angedreht, aber die Schwester hatte es wohl vergessen. Die Stufen zur Terrasse knarrten, Inga schaute zur Tür. Als sie sich zurückwandte, hatte der Leutnant den Kopf gehoben und musterte sie von oben bis unten.

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