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Zwischen den Gezeiten

Zwischen den Gezeiten

Titel: Zwischen den Gezeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Wallner
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Mittelhandknochen war nichts gebrochen, die Prellungen heilten, die Narben und Blutergüsse waren nur oberflächlich. Inga aber begriff, er ruhte sich aus. Auch wenn er schon sprechen konnte, zog er es vor, schweigend auf dem Rücken zu liegen und ihren Handgriffen aus dem Augenwinkel zu folgen. Sie fragte ihn nicht mehr nach dem Vorfall, ob er gestürzt oder gesprungen sei – das Spiel, die Schulden, seine Ausweglosigkeit, Inga kannte die Gründe. Meist genügte ihr dieses stumme Beisammensein, wenn ihre Blicke sich trafen oder er abwesend ins Gerippe des Dachstuhles starrte. Selten erzählte sie von ihrem Tag – wie der Commander seinen Hund mit Corned Beef verwöhnte, daß der Sergeant eine Liebschaft in der Stadt haben müsse –, der Leutnant schenkte ihrer Plauderei gelassene Aufmerksamkeit. Einmal jedoch bemerkte Inga eine plötzliche Anspannung an ihm, ungewohnte Neugier in seinen Augen. Sie hatte das leere Geschirr schon genommen, um zum Dienst zurückzukehren, da setzte er sich ruckhaft auf und murmelte, vorsichtig, als erwarte er den Stich im Kiefer, sie möge noch bleiben.
Seine Stimme klang brüchig, ungeübt nach langem Schweigen. Etwas wie Freude durchfuhr Inga, er wollte länger mit ihr beisammen sein. Sie kehrte zum Stuhl zurück und erzählte von ihrem Vater, der sich vor Verletzungen besonders schützen mußte, da er kein Schmerzempfinden besaß.
    Der Leutnant hatte sich zu Inga gedreht, den Kopf in die Hand gestützt. »Kein Schmerz«, sagte er, rollte auf den Rücken und schloß die Augen. Wäre der Verband nicht gewesen, man hätte ihn für einen Kurgast auf Sommerfrische gehalten.
    Â 
    Die Liste des schweren Gerätes sei fehlerhaft, behauptete der Commander. Das liege an den falschen Angaben der Dienststellen, erwiderte Inga. Diesmal überzeugte sie ihn nicht; er hielt ihr eine Strafpredigt voll Müdigkeit und Überdruß, pfiff dem Hund und verschwand zwischen den Föhren. Inga sortierte die braunen Zettel von neuem, diesmal nicht nach den Anfangsbuchstaben der Abteilung, sie benutzte die Zifferncodes der Geräte selbst. Stundenlang schwirrten Zahlen in ihrem Kopf und auf den Listen, ihr Kreuz schmerzte, die Augen brannten, im Schein der Lampe sortierte sie immer noch. Überzeugt, den letzten Transport ohnehin verpaßt zu haben, nahm sie ihre Tasche, schloß die Kommandobaracke ab und schlenderte zum D-Block. Sonderbare müde Gedanken stellten sich ein, sie fragte sich, wieso sie bei allen Menschen ihrer Umgebung etwas gutzumachen hatte. Zwischen den Föhren tauchte Henning auf, hart vor dem Nachthimmel herausgezeichnet  – seine Ehe brachte sie durcheinander, hatte ihn hintergangen, bestohlen, und er zeigte für alles Verständnis. Sie sah Marianne und Erik, die das Geld für die Seidler nicht zusammenbekamen, sah den Pferdedoktor, der die Eltern nicht auszahlte, weil Inga bei ihm in der Kreide stand. Du bist jemand, der das Zeug hat, Glück zu bringen, fiel ihr der Satz des Leutnants ein; mitten im Wald lachte Inga laut heraus, eine Glücksfee sah anders aus!
    Der aufdringliche Corporal hatte Nachtdienst, sie entging seinen Aufmerksamkeiten, indem sie den Block über den Seiteneingang
betrat. Froh, die Tür hinter sich schließen zu können, öffnete sie die Bluse, ließ kaltes Wasser über die Hände rinnen, beschloß, nicht mehr zu lesen und machte kein Licht. Sie schlief ein, während aus dem Casino leise Radiomusik tönte.
    Im ersten Schreck meinte sie, der Corporal sei betrunken ins Zimmer gestolpert, doch es war kein unkontrolliertes Eindringen, kein Angriff auf das schlafende Fräulein, eine leise geführte Bewegung vielmehr, sachtes Schließen der Tür. Ihr erschrecktes Aufrichten machte den einzigen Lärm.
    Â»Keine Angst.« Die Umrisse der gebückten Gestalt, er verharrte neben dem Waschbord, aus dem lichtlosen Grau schimmerte das Helle des Kopfverbandes. »Du hast mich heute nicht besucht.«
    Â»Viel Arbeit«, stieß Inga flüsternd hervor.
    Â»Was den Schmerz betrifft, irrst du dich«, sagte er nach einer Pause. »Schmerz geißelt, aber sein Feuer, das Durchrasen im unerwarteten Augenblick, öffnet auch Ventile.« Trotzdem es kaum mehr als ein Raunen war, hörte sie etwas Zerrendes in der Stimme, etwas, das sich jederzeit losreißen konnte. Ohne Geräusch befreite sie ihre Beine aus dem Knäuel

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