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Zwischen den Gezeiten

Zwischen den Gezeiten

Titel: Zwischen den Gezeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Wallner
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Fenster, die Kastanie brauchte Regen, die Blätter schrumpelten an den Rändern.
    Als Marianne die Tochter am Fuß des Baumes sah, überfiel sie das üble Gewissen, Inga zu früh zu viel zugemutet zu haben. Genau besehen ernährte sie die Familie. Marianne rechnete nach, zwei Monate bis zu Ingas Geburtstag. Nach Horsts Tod war sie von einem Tag auf den andern die Große geworden und es seither geblieben. Was machte die Tochter frühmorgens im Garten, nachts war sie nicht heimgekommen, oder hatten sie schon geschlafen? Marianne öffnete das Fenster.
    Â»Mußt du nicht zum Dienst?« rief sie gedämpft, um die Nachbarschaft nicht zu wecken.
    Â»Ich wollte mich umziehen«, antwortete Inga ebenso flüsternd.

    Â»Wann bist du gekommen?«
    Â»Spät.« Sie stand auf, ihre Waden waren feucht vom Tau. »Ich wollte euch sprechen.«
    Â»Frühstücken wir zusammen?« Marianne machte eine einladende Geste, wehrte sich gegen das Gefühl, nie freundlich genug zur Tochter zu sein.
    Â»Der Transport wartet nicht.« Inga zeigte zum Gartentor und schulterte die Tasche.
    Â»Wolltest du dich nicht umziehen?«
    Â»Zu spät.« Sie lief am Schuppen vorbei, strich mit der Hand über die Tomatenstauden, verharrte vor dem Hügel, wo das Schaf verscharrt lag. »Ich habe mir übrigens etwas von deinem Zellstoff genommen«, sagte sie und trat auf die Straße.
    Â»Wozu?« rief Marianne. »Worüber wolltest du mit uns reden?« Ein Stich im Bein, sie faßte den Fensterrahmen, wartete, daß der Schmerz nachließ, und zog sich ins Bett zurück. Am besten unternahm sie nichts mehr, bis Erik das Frühstück brachte und sie den kommenden Tag besprachen. Das Bild der Tochter am Fuße des Baumes, verwirrt oder traurig, in den Sachen vom Vortag erschien sie zum Dienst. Marianne zog die Decke hoch, verschränkte darunter die Arme, ihr wurde nicht wärmer.

    Drei Tage lang war Jasper unaufgefordert aus der Baracke gelaufen, um sein Geschäft zu verrichten, er hatte bei den fünf Föhren gewühlt, sich eingedreckt und war den Lastern in deren Staubwolke hinterhergerannt. An diesem Morgen – Inga war zu spät, hielt noch das abgerissene Kalenderblatt in der Hand, als der Commander eintrat – legte Jasper sich nicht wie sonst unter den Schreibtisch, sondern schnüffelte, sprang mit den Vorderpfoten auf die Ablage, der Korb kippte, begeistert beobachtete der Spaniel, wie Papier durchs Büro segelte.
    Â»Nicht so wild, mein Alter«, sagte der Kommandant, sah Inga einen Augenblick beim Aufheben zu, pfiff dem Hund, ging in sein
Zimmer und schloß die Tür. Nebenan fielen Schuhe zu Boden, das Klirren der Gürtelschnalle. Sie hatte die Ordnung eben wiederhergestellt, als Herr und Hund zum Aufbruch bereit vor ihr standen. Jasper sprang zum Ausgang, die Leine in der einen, die Bürste in der anderen Hand, folgte der Kommandant. »Sagen Sie beim Wachdienst Bescheid.«
    Den Hörer am Ohr, sah Inga die beiden über den Sandweg verschwinden. Sie telefonierte, trat vor die Baracke – der Sergeant war irgendwo draußen, das machte ihr Sorge. Sie erwiderte den Gruß des Soldaten von der Tankstelle und kehrte zurück.
    Um diese Tageszeit war es ruhig im Camp, nur das Anfahren der Laster, die die Schranke passierten, entferntes Gelächter, die Vögel machten ihren üblichen Lärm. Inga prüfte die Geräusche auf Besonderheiten, niemand näherte sich, sie hängte ihre Tasche über die Schulter und ging, die grüne Mappe aufgeschlagen im Arm, ins Büro des Kommandanten. Sie zog ein Papier hervor, das sie ihm später vorlegen mußte, hob den Kopf, sah ihr verwirrtes Gesicht im Spiegel. Das Haar stand zu Berge, sie trat ans Waschbecken und machte Licht. Ihre Hand verharrte auf der Leuchtschiene, lange war dort nicht abgestaubt worden, sie fühlte den glatten Gegenstand, nahm und verbarg ihn zwischen Handballen und zwei Fingern. Mit der anderen Hand ordnete sie ihr Haar.
    Ingas Angst hatte etwas Geschmeidiges; neugierig beobachtete sie jene fremde junge Frau, die keine Skrupel kannte. Sie kehrte zum Tisch zurück und versuchte, über die Mappe gebeugt, den Schlüssel in die oberste Schublade zu stecken. Er griff nicht gleich, beim dritten Versuch glitt die Lade auf. Sie räumte englische Zigarren, ein Segelbuch beiseite und fand den Schlüsselbund des Kommandanten. Fingerfertig

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