Zwischen den Zeilen
fünfzig noch gelernt und seiner Frau dann das erste Mal einen Liebesbrief geschrieben hat. Das war total süß.« Sie lächelt verklärt.
»Ja, ich glaube, den hab ich auch gelesen«, behaupte ich schnell, um endgültig von Ben abzulenken. »Vielleicht machen wir eine Reportage drüber. Falls es jemanden interessiert.« Ich liebe meinen Job… manchmal jedenfalls…
»Schon krass, wenn man mal drüber nachdenkt…«, setze ich nach. Und krass, was ich ihm gesagt hab, bevor er Schluss gemacht hat...
»Stimmt.« Sie nickt. »Und wenn ich's mir recht überlege, wenn ich nicht lesen oder rechnen könnte, ich glaube, das würde ich einem tollen Typen auch nicht unbedingt erzählen.«
»Ich stell mir das ziemlich anstrengend vor«, werfe ich ein.
»Ist es vermutlich auch.«
»Dabei ist einem gar nicht wirklich bewusst, dass es das gibt.« Ich glaube, so richtig hab ich's wohl immer noch nicht kapiert.
»Ich weiß die Zahl nicht mehr, aber es sind in Deutschland wohl ein paar Millionen. Stand auch in diesem Artikel, vielleicht findest du's noch online.«
»Echt jetzt? Ich meine… so viele?« Das ist wirklich krass.
»Doch…« Sie nickt. »Ich meine, es waren sieben, aber ich kann mich täuschen.«
»Sieben Millionen?« Das sind… zehn Prozent, na ja, nicht ganz, aber wenn man von den achtzig Millionen mal zehn Millionen Kinder abzieht, die es, weil sie zu jung sind, noch nicht können müssen, dann kommt das ungefähr hin. Falls ich mich nicht verrechnet habe jedenfalls… aber Mathe und ich… na ja, das war nie eine wirklich erfolgreiche Verbindung… Ich schätze, ich melde mich dann mal freiwillig für den Kurs für diejenigen mit dem Problem mit den Zahlen…
»Aber wie geht das?«, frage ich fassungslos. »Also, dass man nicht auffällt und… ich meine, so was bemerkt man doch.« Wenn man nicht so ein von Hormonen hingerissener Depp ist wie ich, jedenfalls.
»Nicht unbedingt«, klärt Milla mich auf. Und vermutlich ist ihr, trotz meines Ablenkungsmanövers, längst klar, worum es eigentlich geht und dass ich den Artikel entgegen meiner Behauptung nie gelesen hab. »Man entwickelt wohl einiges an Strategien, um den Alltag auch ohne Lesen zu meistern. Der Mann, um den es ging, hatte es seiner Frau auch lange nicht gesagt.«
»Aber wieso nicht?«
»Er hat sich geschämt. Ich fände das wohl auch nicht witzig. Stell dir das doch mal vor. Wir denken ja auch, dass jemand, der das nicht kann, irgendwie bescheuert ist. So was behält man also lieber für sich, vor allem, wenn man jemanden kennenlernt.« Halbherzig widmet sie sich wieder der Illustrierten, während ich einen Schluck Kaffee nehme.
»Ich find das irgendwie abgefahren«, versuche ich, das Gespräch wieder aufzunehmen. »Ich meine, ich frage mich echt, wie das passieren kann bei uns in Deutschland. Wir haben Schulpflicht und bei jüngeren Leuten heutzutage… das müsste doch auffallen.«
»Da wäre ich nicht so sicher. Unterhalte dich mal mit Isi. Die kann dir da Sachen erzählen von der Gesamtschule, an der sie unterrichtet, die willst du nicht wissen.«
»Meinst du?« Ich kann es irgendwie immer noch nicht glauben, auch wenn ich in der Theorie natürlich auch vor ihm schon wusste, dass es dieses Problem durchaus gibt. Nur dachte ich eben immer, diese Leute wären… anders als Ben…
***
»Josh?« Daniel klingt verwundert. Er scheint nicht damit gerechnet zu haben, mich hier zu treffen. Und wenn ich ehrlich bin, weiß ich selbst nicht so genau, was ich mir von dieser Aktion eigentlich verspreche. Vermutlich ist es also ziemlich bescheuert, hier vor dem Fitnessstudio rumzulungern. Aber zu Hause zu sitzen war irgendwie keine Alternative.
»Hi«, sage ich unsicher und hebe die Hand, in der die, keine Ahnung wievielte, Kippe glimmt, während er sich mit einem Wir sehen uns schnell von zwei Männern, die ungefähr sein Alter haben, verabschiedet.
»Zufall?« Er schultert seine Sporttasche. Die Sporttasche.
»Kann man nicht grade behaupten«, gebe ich verlegen zu, nehme einen Zug und atme den Rauch in den Nachthimmel.
»Verstehe.« Er lächelt milde und sieht mich mit hochgezogenen Augenbrauen von der Seite an.
»Ich weiß… ich wollte aufhören«, sage ich entschuldigend, als ich es bemerke.
»Scheinst nicht besonders erfolgreich zu sein.« Er lacht leise auf und gemächlich setzt er sich in Bewegung. Ich folge ihm im Schein der Straßenlaternen über den Bürgersteig an parkenden Autos entlang.
»Nein, nicht so«, gebe ich
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