Zwischen der Sehnsucht des Sommers und der Kälte des Winters
er erst groß wäre. Wenn er und seine Kameraden in Streichholzschachteln Hummeln und Heuschrecken fingen, dann spielten die anderen damit Radio, während er selbst ein rotes Kreuz auf seine Schachtel malte und sie als Krankenwagen benutzte. Den Patienten ging es oft sehr schlecht, weshalb sie umgehend in die Claes-Waltin-Klinik gebracht wurden, wo der Chef persönlich sie mit einer chirurgischen Ausrüstung operierte, die er dem Nähkasten seiner Mutter entnommen hatte, doch trotz aller Bemühungen war es in der Regel zu spät und die Todesrate fast total. Eigentlich überlebte nur sein kleines Mütterlein, Jahr um Jahr um Jahr, trotz der astronomisch hohen Wahrscheinlichkeit, die während all dieser Zeit für ihr sofortiges Ableben sprach.
Als seine Mutter dann endlich ihr irdisches Dasein verließ, geschah das auf überaus unerwartete und banale Weise. Portweinbeschwipst und tablettenberauscht war sie auf dem Rückweg von ihrem täglichen Arztbesuch im U-Bahnhof Östermalm vom Bahnsteig gefallen, ein ganzer Zug war nötig gewesen, um ihrem lebenslangen Leiden ein Ende zu setzen. Waltin studierte damals bereits Jura. Seinen Plan, Arzt zu werden, hatte er längst schon aufgegeben, was im Hinblick auf sein mieses Abiturzeugnis auch nur ratsam gewesen war. Als Mensch war er fertig entwickelt, die Lüge war sein Lebenselixier, er war ein herzlicher und überaus charmanter Psychopath mit starkem Interesse an Frauen, die er tief und innig hasste, ohne diesen Hass auch nur zu ahnen. Und als sein Mütterchen endlich doch starb, war das der erste richtige Fortschritt in seinem Leben.
Er hatte außerdem rechtzeitig ihr Testament gefunden, was ihm unleugbar eine Menge Scherereien ersparte. Das Testament bestand aus zwanzig Seiten und begann mit einer langen Aufzählung der Legate, die allerlei wohltätigen Stiftungen zur Erforschung der meisten Todesursachen zugute kommen sollten, mit Ausnahme der tropischen Krankheiten. Auch bei der Beerdigung wollte die Mutter sich nicht lumpen lassen, und die Liste der gewünschten Gäste umfasste an die fünfzig Vertreter des privat praktizierenden Ärztestandes der Stadt. Waltin hatte zu einer praktischeren Lösung gegriffen: ein Sarg aus Presspappe, auf dem eine Decke lag, die er umsonst bekommen hatte, keine Blumen, keine Gäste, kein »Ein’ feste Burg ist unser Gott«, und kaum hatte er sich glücklich durch die ergreifende Zeremonie hindurchgeweint, da hatte er die alte Kuh schon einäschern lassen und die Asche an einem bewaldeten Hang auf dem Gelände des Friedhofes Norra Kyrkogärden verstreut, wo er nicht einmal durch Zufall je wieder einen Fuß hinsetzen würde.
Das Glück war ihm auch in den folgenden Jahren treu geblieben. Er hatte ein dermaßen bescheidenes Examen hingelegt, dass es kaum für einen Posten am Gericht von Haparanda gereicht hätte. Er konnte nicht einmal Dienstanwärter bei der Staatsanwaltschaft werden, und da blieb ihm nur die Möglichkeit, sich auf einen Ausbildungsplatz als Polizeichef zu bewerben. Diese Ausbildung hatte er dann mit Bravour geschafft und sein Examen damit gefeiert, dass er einer schlichten Frau aus dem Volk ein Stuhlbein in die Scheide geschoben hatte, nur haarscharf zu weit, aber die Frau hatte doch Urteilskraft genug bewiesen, um ihn nicht anzuzeigen, sondern sich mit einer finanziellen Entschädigung zu begnügen, die er sich nun wirklich leisten konnte. Er dagegen hatte sich entschlossen, in Zukunft seine Präzision auf sexuellem Gebiet zu steigern. Seine Fantasien waren zarte Wesen, sein Triebleben ein stetiger Balancegang und an sich schon schwer genug, ohne dass eine verständnislose Umgebung über seine ein wenig eigenen Vorlieben aufgeklärt zu werden brauchte.
Dann war ihm Berg begegnet, der nicht einmal halb so gerissen war, wie alle glaubten, und Berg hatte ihn zur Sicherheitspolizei geholt. Als die Zeit dann reif war und man mit dem Aufbau der externen Tätigkeit begonnen hatte, war er zu deren erstem Chef avanciert, und als solcher war er erfolgreich, beliebt und mehr oder weniger unverletzlich. Natürlich gab es Probleme, aber Probleme waren da, um gelöst zu werden, und er selbst hatte dabei nur selten Fehler gemacht. Und er hatte das auch jetzt nicht vor, da es galt, herauszufinden, was dieser seltsame John P. Krassner auf seinen Wanderungen zwischen dem Studentenwohnheim, in dem er wohnte, diversen Bibliotheken und Archiven und dem regulären Abendbesuch in der Bar des Presseclubs in der Vasagatan eigentlich
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