Zwischen Ehre und Verlangen
hier”, sagte James. “Sie ist jetzt siebzehn Jahre alt und wird von meiner Mutter hin und wieder zu ausgewählten Anlässen mitgenommen, damit sie lernt, sich vor ihrem Debüt in der nächsten Saison auf gesellschaftlichem Parkett zu bewegen.”
“Wie vernünftig”, befand Amanda. “Ich wünschte, ich hätte diese Möglichkeit gehabt. Ich war schrecklich unerfahren und wusste nicht, wie ich mich im Kreis der Erwachsenen verhalten sollte. Vor allem hat es mich schrecklich irritiert, dass die Debütantinnen von den Herren so unverhohlen neugierig begutachtet wurden. Noch schlimmer waren in meinen Augen jedoch die zahlreichen Mütter, Tanten oder sonstigen Aufsichtspersonen, die eine junge Dame unter die Haube zu bringen hatten. Für sie war jede andere eine Rivalin ihres Schützlings, an der sie vermutlich kein gutes Haar ließen. Man kam sich vor wie auf einem öffentlichen Markt, wo die Verkäufer die von anderen Anbietern feilgehaltenen Waren abschätzen und überlegen, ob sie im Preis heruntergehen müssen.”
James lachte schallend auf und sagte grinsend: “Das muss ich meiner Mutter erzählen.”
“Oh, bitte nicht!”, entgegnete Amanda bestürzt. “Ich möchte nicht, dass sie sich angesprochen fühlt!”
Amanda war sehr von dem im klassizistischen Stil errichteten Eckgebäude beeindruckt, in dem Lord Oughton am Cavendish Square residierte. Elegant livrierte Diener eilten herbei, von denen einer ihm die Zügel des Gespanns abnahm und zwei andere Amanda auf die Straße halfen. Seine Lordschaft geleitete Amanda ins Haus, wo sie von einem Würde und Gelassenheit ausstrahlenden Butler in Empfang genommen wurden, der ihr den Mantel abnahm, während der Viscount einem Lakaien Hut und Handschuhe übergab.
“Meine Mutter besteht darauf, die Hälfte unseres Personals vom Land mitzubringen”, erklärte James amüsiert. “Natürlich haben die meisten Angestellten hier nicht sehr viel zu tun. Sie lässt sich jedoch nicht umstimmen. Wenn Sie sich mir bitte anschließen würden”, forderte er dann Mrs. Clare auf und begab sich mit ihr in die Beletage. Galant hielt er ihr die Tür zum Gesellschaftszimmer auf, ließ ihr den Vortritt und folgte ihr dann.
Er machte seine Mutter und seine Schwester mit ihr bekannt, und Amanda fand beide sofort sympathisch. Lady Oughton war sehr freundlich, und auch ihre Tochter hinterließ einen umgänglichen, liebenswürdigen Eindruck.
“Darf ich fragen, was Sie in die Stadt geführt hat, Mrs. Clare?” erkundigte sich Ihre Ladyschaft.
“Ich bin zum Einkaufen hier, und außerdem habe ich ein Vorstellungsgespräch mit einer jungen Frau gehabt, die ich als Zofe engagieren werde”, erklärte Amanda. “Sobald ich alles erledigt habe, kehre ich nach Haus zurück, vermutlich schon in wenigen Tagen.”
“Warten dort dringende Verpflichtungen auf Sie?”
“Nein.”
“Nun, wenn dem so ist, könnten Sie doch wie meine Tochter und ich den Sommer in Brighton verbringen”, schlug Lady Oughton vor. “Wir wollen am Wochenende aufbrechen.”
“Oh, das ist ein guter Einfall”, schaltete Elizabeth sich eifrig ein. “Meine Mutter hat in Brighton ein sehr repräsentatives Domizil gemietet.”
“Die Versuchung ist groß”, gestand Amanda überrascht. “In der Kürze der Zeit würde ich indes kein passendes Haus finden, und in einem Hotel möchte ich nicht wohnen.”
“Oh, wie der Zufall es will, kann ich Ihnen in dieser Hinsicht behilflich sein”, äußerte Lady Oughton erfreut. “Ursprünglich wollte meine Schwester mit ihren Kindern ebenfalls in Brighton sein, doch leider sind die Kleinen krank geworden, sodass sie abgesagt hat. Daher ist das von mir für sie angemietete, neben unserem liegende Anwesen noch frei. Wenn Sie es haben wollen, muss ich dem Makler nicht mitteilen, dass er anderweitig darüber verfügen kann.”
“Du überrumpelst Mrs. Clare, Mama!”, warf James leicht vorwurfsvoll ein.
“Nun, der Vorschlag kam tatsächlich etwas plötzlich”, räumte Amanda lächelnd ein, “aber ich finde ihn ausgezeichnet.” In Brighton würde sie zumindest mehr Abwechslung als in Upper Glaven Hall haben.
“Gut, dann ist die Sache abgemacht”, erwiderte Lady Oughton zufrieden. “Läute bitte, Elizabeth. Ich möchte Mrs. Clare den Mietvertrag zeigen, damit sie ihn lesen kann.”
“Ach, das ist nicht notwendig”, entgegnete Amanda. “Wenn die Bedingungen für Sie akzeptabel waren, werden sie das auch für mich sein.”
Die Fahrt nach Brighton verlief ohne
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