Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zwischen Ewig und Jetzt

Zwischen Ewig und Jetzt

Titel: Zwischen Ewig und Jetzt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie Lucas
Vom Netzwerk:
gelaufen, sollen sich jetzt die anderen abmühen. In Gedanken bin ich mal wieder dabei, die Puzzleteile meines Lebens zu sortieren. Als da wären: War mein Stiefbruder tatsächlich dazu in der Lage, unseren Vater zu töten? Und wenn ja, warum? Klar war er wütend, muss er wütend gewesen sein, als er von mir erfuhr. Ihn hatte unser Vater schließlich auch jahrelang belogen, oder? Aber ein Mord?
    »… hat ja nicht viel genützt«, dringt von weit weg Alices Stimme an mein Ohr. »Caesars Tod führte ja direkt in den Bürgerkrieg.«
    Was hat es denn Justin genützt, dass Papa tot ist? Er kriegt das Geld, das ganze Vermögen, klar. In jedem Krimi ist das ein starkes Motiv. Aber im wirklichen Leben? Ich meine, wir reden hier von echtem Mord. Das ist doch geradezu lachhaft!
    »… für die Freiheit Roms und gegen die väterliche Tyrannei …«
    Nein, ein Tyrann war unser Vater nicht. Er hatte strenge Erziehungsregeln, das schon. Sobald er in »Afrika« war, durfte ich wesentlich mehr. Er war schon älter, nicht der knuddelige Kumpelpapa, aber er war so stark. So unbezwingbar. Wenn er da war, waren wir in Sicherheit, Mama und ich. Lag vielleicht auch daran, dass alles, was schief- oder kaputtging, warten musste, bis er wieder zurück war. Der Trockner lief nicht? »Das hat Zeit, bis dein Vater wieder da ist.« Die Kaninchen fraßen die Dahlien weg? »Dein Vater kümmert sich darum.« Ich war unartig? »Warte, bis ich das deinem Vater erzähle.« Papa konnte alles regeln, alles. Nur seine Familienangelegenheiten vor seinem Tod nicht mehr. Was irgendwie merkwürdig ist.
    Merkwürdig.
    Ich werde aufmerksam, als Frau Fasold Niki bittet, sich wieder hinzusetzen. Rasch drehe ich mich um und merke, dass auch die anderen gucken. Aber nicht nur gucken: Über der Klasse liegt wieder dies ängstliche Schweigen, das ich schon öfter wahrgenommen habe. Als würde gleich etwas passieren. Verdammt.
    »Niki?«, sagt Frau Fasold. »Setzen Sie sich bitte wieder?« Auch ihre Stimme klingt merkwürdig.
    Niki hat sich auf seinen Tisch aufgestützt, seine Augen gehen ins Leere. Sein Haar fällt ihm ins Gesicht, ich kann die Muskeln um seinen Mund zucken sehen. Seinen Piercingring, der sich mitbewegt.
    Im Klassenzimmer ist es so ruhig wie im Grab. Es kommt mir sogar kälter vor. Niemand rührt sich, wirklich niemand. Nicht einmal Frau Fasold, die Niki nur mit offenem Mund anstarrt, ihr Gesicht eine Maske.
    Ich will Miriam anstoßen, sie fragen, was hier vorgeht, fühle mich jedoch wie gelähmt. Mein Blick wandert zu Felix. Er sieht als Einziger nicht zu Niki, sitzt nur da, die Arme vor der Brust verschränkt, und guckt zu Boden.
    Wie lange geht das schon so? Ich habe jedes Zeitgefühl verloren. Die Sekunden dehnen sich endlos, die Spannung in der Luft verdichtet sich. Es wird etwas passieren. Nur was?
    Endlich, endlich hebt Niki den Kopf. Langsam. Dreht ihn leicht nach links und richtet seine Laseraugen auf Vanessa. Ausdruckslos. Unbewegt. Sieht sie einfach nur an.
    Was einen verblüffenden Effekt hat.
    Vanessa springt auf wie von der Tarantel gestochen. »Nein«, schreit sie. »Hör auf damit. Das ist nicht wahr.«
    Nikis blaue Augen leuchten beinah. Er erwidert nichts.  
    »Nicht wahr«, kreischt Vanessa, nimmt ihr Geschichtsbuch und wirft es in Nikis Richtung. Es erreicht ihn nicht, fällt flatternd in die Mitte des Klassenzimmers und bleibt aufgeschlagen liegen.
    Ich kann nur immer dieses Buch ansehen, während Vanessa auf ihrem Tisch zusammensinkt und laut schluchzt. Noch immer bewegt sich niemand, sagt niemand etwas. Bis auf das verzweifelte Weinen von Vanessa ist es ruhig. Selbst Lena, ihre Sitznachbarin, starrt sie nur hilflos an. Frau Fasold rührt sich nicht.
    »Was denn?«, bringe ich heraus, weil ich es einfach nicht mehr aushalte. Weil irgendwer doch etwas tun muss. »Was ist denn?« Es klingt wie die Stimme eines Mädchens im Wald. Fehlt nur noch der Böse Wolf.
    »Es ging ihm schon besser«, schluchzt Vanessa. »Sie haben gesagt, Papa ist über den Berg. Dass es nicht tödlich ist. Niemand stirbt doch heutzutage an einer Grippe, oder? Niemand, der vorher gesund ist. Das haben sie gesagt.« Sie, immer sie. Immer gibt es Leute, die einen ›aufklären‹, obwohl sie einen doch nur beruhigen wollen. Ärzte, Krankenschwestern, Polizisten, die eigene Mutter …
    »Es ging ihm wieder gut.«
    Und dann gibt es wohl noch diejenigen, die es besser wissen.
    Ich sehe zu Niki, der seinen Kopf gesenkt hat. Die Haare verbergen sein

Weitere Kostenlose Bücher