Zwischen Ewig und Jetzt
Wand. »Und jetzt erkläre ich dir noch kurz das mit den Modalverben. Und wie man sie ersetzt.«
Und das tut er dann auch und ich schaue ihn an, lasse mich wegtragen von seiner Stimme, der Bewegung seines Mundes, dem Auf und Ab des Rings um seine Lippe. Himmel, wie gern würde ich ihn jetzt küssen.
»Klar?«
»Was?«
»Must not. You must not look at me like that.«
»Muss ich nicht?«
»Du
darfst
es nicht.«
»Warum darf ich nicht?«
»Meinst du, warum ›must not‹ mit ›nicht dürfen‹ übersetzt wird oder willst du den Grund dafür wissen?«
»Den Grund.«
Er beugt sich vor, küsst mich leicht auf die Lippen. »Deshalb«, sagt er. Dann seufzt er. »Und sieh mich nicht an mit deinem Hundeblick.«
»Hundeblick?«
»Hamsterblick, wenn dir das besser gefällt. Schließlich bin ich auch nur ein Mensch.« Er steht auf und setzt sich auf den Schreibtischstuhl, räuspert sich und streicht sich durch das Haar.
Ich bin es, es liegt an mir. Ich habe ihm gesagt, dass ich Zeit brauche. Dass ich ihn liebe und trotzdem Zeit brauche. Natürlich weiß ich, dass er nicht einfach Ersatz ist. Dass ich Niki nicht benutze, um über Felix hinwegzukommen. Und trotzdem ist da dieser kleine, mikroskopisch kleine Zweifel. Was, wenn doch? Was, wenn Niki jetzt, da sowieso niemand mehr mit mir spricht, niemand außer uns in dem unsichtbaren Kreis ist, damit auch als Einziger erreichbar ist?
»O-oh«, macht Niki und schüttelt leicht den Kopf, »das ist jetzt zweifellos der Mein-Hamster-ist-tot-Blick.«
Ich zwinge mich zu einem Lächeln. »Ist er ja auch.«
Der Kreis ist da, zweifellos. Aber wenn nur wir da drin sind, Niki und ich, dann spüre ich ihn nicht mehr. Und wahrscheinlich ist es gerade das, was mir Sorgen machen sollte.
An diesem Nachmittag, auf dem Nachhauseweg, habe ich das erste Mal das Gefühl, beobachtet zu werden. Es ist schon länger her, seit ich an den Brief in meinem Biologiebuch gedacht habe. Schon merkwürdig, nicht wahr? Die erste Nachricht habe ich über die Sache mit den Pathologiegeistern völlig vergessen, die zweite hat die Trennung von Felix verdrängt. Allerdings hat sich die Angelegenheit auch von selbst erledigt. Jetzt ist der Weg frei für Anni. Jetzt kann sie ihn haben.
Ein Gedanke, der mir so einen Stich versetzt, dass ich nach Atem schnappe.
Ich stehe an der Ampel und höre
Arcade Fire
, als ich aus den Augenwinkeln meine, Justin zu sehen. Was natürlich Blödsinn ist, schließlich leben wir nicht auf dem Dorf. Und wo Niki wohnt, weiß er ja auch nicht.
Ich recke meinen Hals, sehe mich genau um. Nein, das war er nicht, Blödsinn. Dafür sehe ich ein anderes bekanntes Gesicht: Da ist Erik. Er winkt, schaut sich kurz um und kommt dann über die Straße gelaufen. Ich ziehe mir die Stöpsel aus dem Ohr und warte, bis er bei mir ist.
»Julia«, sagt er, »welche Überraschung. Was machst du denn hier?«
»Hallo Erik. Musik hören.« Ich habe jetzt keine Lust, ihm von Niki oder unserer Englischlernerei zu erzählen. »Und du?«
»War verabredet, aber das hat sich zerschlagen. Jetzt bin ich frei wie ein Vogel. Lust auf ein Eis oder so? Ich lade dich ein.« Er lächelt freundlich, aber ich muss an Anni denken. Schon wieder Anni. Aber natürlich muss ich das: Die Ähnlichkeit zwischen den Geschwistern ist wirklich frappierend. Dieselben rotblonden Haare und grauen Augen, dieselbe Schlacksigkeit.
»Tut mir leid«, erwidere ich daher, »aber ich muss nach Hause. Vielleicht ein anderes Mal.«
»Kein Problem.« Er will sich gerade abwenden, da fällt ihm noch etwas ein. »Aber ich könnte dich nach Hause bringen, wenn du willst: Mein Auto steht direkt um die Ecke.«
Ich zögere den Bruchteil einer Sekunde. Warum nicht? »Das wäre natürlich toll.«
Um die Ecke ist ein wenig untertrieben: Wir gehen fast den ganzen Weg zurück, den ich gerade gekommen bin: Erik parkt nur wenige Meter von
Galanis Bestattungen
weg. »Hier warst du verabredet?«, frage ich Annis Bruder.
»Noch weiter da runter.« Erik zeigt in Richtung Kanal. »Hab keinen besseren Parkplatz gefunden.« Er geht zur Beifahrertür und hält sie mir auf.
Ich steige ein, schnalle mich an. Unruhe überfällt mich, aber wahrscheinlich liegt das an meiner Erfahrung mit Justin. Hier könnte ich jederzeit … ich probiere den Türöffner, doch nichts passiert.
Erik, der sich hinter das Lenkrad geklemmt hat, lächelt entschuldigend. »Kindersicherung.«
»Das ist ein Zweitürer. Und du hast doch gar keine Kinder.«
»Nein, ist
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