Zwischen Himmel und Liebe
Baum klettern oder das Alphabet rückwärts aufsagen kann, weil ihm das körperlich unmöglich ist. Deshalb ist er ja noch lange kein Monstrum.
Daher hätte Elizabeth auch nicht die Wohnzimmertür abschließen müssen, als sie an diesem Abend ins Bett ging, weil ich sie sowieso nicht aufgekriegt hätte. Wie gesagt, ich bin kein Superheld, ich kann nicht durch Wände gucken oder Waldbrände mit einem einzigen Atemzug ausblasen. Meine besondere Fähigkeit ist die Freundschaft. Ich höre den Menschen zu, ich höre, was sie sagen. Ich höre ihren Ton, die Worte, mit denen sie sich ausdrücken, vor allem aber höre ich, was sie
nicht
sagen.
In dieser Nacht konnte ich nichts anderes tun als über meinen neuen Freund Luke nachdenken. Das muss ich gelegentlich. Ich mache mir Notizen im Kopf, damit ich später meinen Bericht bei der Verwaltung abgeben kann. Das kommt nämlich alles in die Akten, damit andere daraus lernen können. Schließlich kriegen wir ständig Neue, und wenn ich grade mal eine Pause zwischen zwei Freunden habe, dann unterrichte ich.
Ich musste darüber nachdenken, warum ich hier war. Warum wollte Luke mich sehen? Was hatte er von meiner Freundschaft? Unser Unternehmen läuft sehr professionell; wir müssen immer einen kurzen Lebenslauf unserer Freunde zur Verfügung stellen und dann unsere Absichten und Ziele auflisten. Sonst kann ich das Problem immer gleich identifizieren, aber das jetzige Szenario brachte mich ein bisschen durcheinander. Wissen Sie, ich war noch nie mit einem Erwachsenen befreundet. Jeder, der schon mal einem Erwachsenen begegnet ist, wird wissen, warum. Man hat keinen Spaß mit ihnen, sie halten sich rigide an Stundenpläne und Termine, sie konzentrieren sich auf die unwichtigsten Dinge, die man sich vorstellen kann, Hypotheken und Kontoauszüge und so was, wo doch jeder weiß, dass man richtig Spaß eigentlich nur mit Menschen haben kann. Aber bei den Erwachsenen geht es immer nur um die Arbeit und nie ums Vergnügen, und obwohl ich auch hart arbeite, ist Spielen trotzdem meine Lieblingsbeschäftigung.
Nehmen wir zum Beispiel Elizabeth: Sie liegt im Bett und macht sich Sorgen um die Steuer und um die Telefonrechnungen, um Babysitter und Wandfarbe. Wenn man eine Wand aus irgendwelchen Gründen nicht in »Magnolie« streichen kann, dann gibt es immer noch eine Million anderer Farben, wenn man die Telefonrechnung nicht bezahlen kann, dann schreibt man eben einen Brief, in dem man alles erklärt. Die Menschen vergessen so leicht, dass sie immer viele verschiedene Möglichkeiten haben. Und sie vergessen, dass solche Sachen auch gar nicht so wichtig sind. Sie sollten sich auf das konzentrieren, was sie haben, statt auf das, was sie nicht haben. Aber ich schweife schon wieder von meiner Geschichte ab.
In der Nacht, als ich im Wohnzimmer eingeschlossen war, machte ich mir ein bisschen Sorgen über meinen Job. Es war das erste Mal, dass mir das passierte. Ich machte mir Sorgen, weil ich mir nicht erklären konnte, warum ich hier war. Luke hatte eine schwierige familiäre Situation, aber das war normal, und ich konnte sehen, dass er sich trotzdem geliebt fühlte. Er war glücklich, er spielte gern, er konnte nachts gut schlafen, er aß sein Essen, hatte einen netten Freund namens Sam, und wenn er sprach, dann hörte ich zu und lauschte und horchte, um die Worte zu erwischen, die er nicht sagte, aber da war nichts. Er wohnte gern bei seiner Tante, hatte Angst vor seiner Mom und unterhielt sich gern mit seinem Granddad über Gemüse. Aber dass er mich jeden Tag sah und mit mir spielen wollte, das bedeutete, dass er mich brauchte und ich für ihn da sein musste.
Seine Tante andererseits konnte überhaupt nicht schlafen, aß kaum etwas, war ständig von ohrenbetäubender Stille umgeben, hatte keinen engen Freund, mit dem sie reden konnte – jedenfalls keinen, den ich zu Gesicht bekommen hätte –, und das, was sie
nicht
sagte, war weit mehr als das, was sie sagte. Sie hatte einmal gehört, wie ich mich bei ihr bedankte, sie hatte ein paar Mal meinen Atem gespürt, hatte meine Hose über die Ledercouch quietschen gehört, aber sie konnte mich trotzdem nicht sehen und fand meine Anwesenheit in ihrem Haus unerträglich.
Elizabeth wollte nicht spielen.
Außerdem war sie erwachsen, machte mir ein flaues Gefühl im Magen und hätte einen Spaß nicht mal erkannt, wenn er ihr ins Gesicht geflogen wäre – und ich versuchte es mehrmals an diesem Wochenende, das können Sie mir ruhig glauben.
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