Zwischen Himmel und Liebe
Deshalb konnte ich unmöglich da sein, um
ihr
zu helfen, so etwas wäre unerhört gewesen.
Die Leute nennen mich oft einen unsichtbaren Freund oder einen Fantasiefreund. Als wäre ich von einem großen Geheimnis umgeben. Ich habe Bücher von Erwachsenen gelesen, in denen es darum geht, warum Kinder mich sehen können. Warum glauben sie so lange an mich und hören dann plötzlich wieder damit auf und werden so wie vorher? Ich hab auch Sendungen im Fernsehen gesehen, in denen darüber diskutiert wurde, warum Kinder jemanden wie mich erfinden.
Also, nur damit ihr es alle wisst: Ich bin weder unsichtbar noch existiere ich nur in der Fantasie. Ich bin immer da und laufe rum wie ihr auch. Menschen wie Luke fassen nicht irgendwie den Entschluss, dass sie mich sehen wollen – sie sehen mich einfach. Aber Leute wie Sie und Elizabeth beschließen, dass sie mich
nicht
sehen wollen.
Sechs
Acht Minuten nach sechs wachte Elizabeth auf, weil ihr die Sonne direkt ins Gesicht schien. Sie schlief immer mit offenen Vorhängen, eine Angewohnheit, die noch aus ihren Kindertagen auf der Farm stammte. Dort hatte sie vom Bett aus dem Fenster sehen können, den Gartenweg hinunter zum Tor und bis zur Landstraße, die in gerader Linie von der Farm wegführte. Endlos schien sie sich zum Horizont zu ziehen, und wenn Elizabeths Mutter von ihren Abenteuern zurückkehrte, entdeckte Elizabeth sie immer schon, lange bevor sie das Haus erreichte, und erkannte sie sofort an ihrem typischen beschwingten, fast tänzelnden Gang. Die Zeit, die ihre Mutter noch brauchte, bis sie bei der Farm ankam, fühlte sich für Elizabeth immer an wie eine Ewigkeit, und so steigerte die Straße Elizabeths Vorfreude auf ihre ganz eigene Art, indem sie sie auf die Folter spannte.
Aber dann hörte sie endlich das Tor quietschen, dessen rostige Angeln der Heimkehrerin ein Willkommensständchen brachten. Elizabeth empfand eine ausgeprägte Hassliebe für dieses Tor. Genau wie der lange Straßenabschnitt ärgerte und foppte es sie manchmal, wenn sie das Quietschen hörte und erwartungsvoll hinausrannte, um enttäuscht festzustellen, dass es nur der Postbote war.
Mit ihrem Beharren, dass die Vorhänge offen blieben, hatte Elizabeth schon ihre Mitbewohnerinnen im College und auch manchen Liebhaber genervt. Eigentlich wusste sie selbst nicht so genau, warum sie so eisern darauf bestand; inzwischen wartete sie ja auf niemanden mehr. Aber jetzt, als Erwachsene, fungierten die offenen Vorhänge für sie als Wecker, denn bei Licht konnte sie nicht tief schlafen. Selbst im Schlaf war sie stets in Alarmbereitschaft, um notfalls die Lage im Griff zu haben. Sie ging zu Bett, um sich einigermaßen auszuruhen, nicht um zu träumen.
Jetzt blickte sie mit zusammengekniffenen Augen im Zimmer umher, und ihr Kopf dröhnte. Sie brauchte Kaffee, und zwar schnell. Draußen zwitscherten die Vögel laut in der ländlichen Stille. In der Ferne antwortete eine Kuh. Aber trotz des idyllischen Morgens gab es an diesem Montag nichts, worauf Elizabeth sich freute. Sie musste einen neuen Termin für das Meeting mit den Bauträgern des Hotels finden, was womöglich schwierig werden würde, denn nachdem in der Presse Artikel über das »Liebesnest auf dem Berg« aufgetaucht waren, kamen jetzt aus allen Landesteilen Leute, um ihre Design-Ideen anzupreisen. Das ärgerte Elizabeth, denn hier war ihr Territorium.
Leider war das auch nicht ihr einziges Problem. Luke war von seinem Großvater eingeladen worden, den Tag auf der Farm zu verbringen. Eigentlich freute sich Elizabeth darüber, aber es machte ihr Sorgen, dass ihr Vater noch einen anderen Sechsjährigen namens Ivan erwartete. Sie musste heute Morgen mit Luke darüber sprechen, denn es graute ihr bei dem Gedanken, was passieren würde, wenn sein unsichtbarer Freund vor ihrem Vater erwähnt wurde.
Brendan war inzwischen fünfundsechzig, groß, breit, wortkarg und grüblerisch. Das Alter hatte ihn nicht weicher und entspannter gemacht, sondern für Bitterkeit, Groll und noch mehr Verwirrung gesorgt. Er war engstirnig und widersetzte sich jeder Veränderung. Wenn er damit wenigstens glücklich gewesen wäre, hätte Elizabeth sein kompliziertes Naturell vielleicht noch eher verstanden, aber soweit sie sehen konnte, brachten ihm seine verbohrten Ansichten nur Frust und machten ihm das Leben zusätzlich schwer. Er war streng, kommunizierte fast ausschließlich mit seinen Kühen und seinem Gemüse, lachte nie, und wenn er doch einmal zu dem Schluss
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