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Zwischen jetzt und immer

Zwischen jetzt und immer

Titel: Zwischen jetzt und immer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Dessen
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ich mir Sorgen um sie mache. Keine Ahnung, es könnte alles Mögliche sein. So bescheuert es klingen mag, ich würde sie auf jeden Fall erst einmal wissen lassen, wie ich mich fühle. Ohne erst groß drüber nachzudenken. Reicht das als Erklärung?«
    Nicht zum ersten Mal machte mich eine meiner eigenen Antworten verlegen, aber so hatte es sich noch nie angefühlt,so real, so . . . als könnte mich das, was ich sagte, verletzen. Als würde ich dadurch total bloßgestellt. Ich hatte keine Ahnung, wie ich in dem Moment aussah, war aber froh, dass mein Gesichtsausdruck im Halbdunkel wahrscheinlich sowieso kaum zu erkennen war. Eine Zeit lang schwiegen wir beide.
    »Das ist überhaupt nicht bescheuert«, meinte Wes schließlich. Mit gesenktem Kopf knibbelte ich am Rand der Ladeklappe rum. »Ganz und gar nicht bescheuert«, wiederholte er.
    Ich fühlte dieses seltsame Kitzeln und Schaben im Hals und schluckte es mühsam weg. »Kann schon sein. Aber ihr fällt es einfach ungeheuer schwer, über Gefühle zu reden. Und damit wird es für uns alle schwer. Als wäre es ihr lieber, wenn wir überhaupt nicht mehr über unsere Gefühle sprächen, keiner von uns. Als würde es ihr sonst zu viel.«
    Wieder musste ich schlucken. Atmete dann tief durch. Spürte, dass sein Blick auf mir ruhte.
    »Glaubst du wirklich, dass es für sie so ist?«
    »Woher soll ich das wissen? Genau weiß ich es letztlich natürlich nicht, denn wir reden ja nicht darüber. Wir reden über gar nichts. Das ist ja das Problem.« Ich fuhr mit dem Finger am Hals meiner Wasserflasche entlang. »Genau das ist mein Problem. Ich rede mit niemandem über das, was in meinem Inneren vor sich geht, weil ich Angst habe, dass es dem anderen zu viel werden könnte.«
    »Und was ist das hier?« Er wedelte mit der Hand zwischen uns auf und ab. »Nennt man das etwa nicht reden?«
    Ich lächelte. »Wir spielen bloß Wahrheit. Das ist etwas anderes.«
    Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Ich weiß nicht . . . Die Kotzgeschichte war schon der Hammer.«
    »Hör mir auf mit der Kotzgeschichte«, sagte ich gespielt entnervt. »Bittebittebitte, sei so lieb.«
    Worauf er jedoch überhaupt nicht reagierte, sondern stattdessen fortfuhr: »Seit wir dieses Spiel spielen, hast du mir echt viel von dir erzählt. Und wenn auch manches davon vielleicht schräg war oder schwierig oder richtiggehend ekelhaft . . .«
    »Wes!«
    ». . . war nichts dabei, das mir zu viel geworden wäre.« Mit ernstem Gesicht sah er mich an. »Vergiss das nicht, wenn du dich das nächste Mal fragst, was andere Menschen verkraften können oder auch nicht, was du ihnen zumuten kannst oder nicht. Es ist vielleicht mehr, als du denkst.«
    »Kann sein«, antwortete ich. »Aber vielleicht bist du in der Beziehung auch einfach eine Ausnahme. Eben jemand, der nicht so ist wie alle anderen.«
    Ich kam mir vor, als redete ich gar nicht selber. Ich hörte die Worte, als wäre nicht ich die Sprecherin, war vollkommen einverstanden mit dem, was gesagt wurde   – und realisierte erst mit leichter Verzögerung, dass es
meine
Stimme war. Hilfe, dachte ich. Das kommt also dabei raus, wenn man nicht denkt, sondern aus dem Bauch heraus redet. Und handelt.
    Wir blickten einander in die Augen. Die Glühwürmchen leuchteten, funkelten, glitzerten in der warmen Nacht. Wes war mir nah, so nah, dass sich unsere Knie beinahe berührten. Plötzlich überkam mich dasselbe überwältigende Gefühl wie auf der Party, als ich seine Hand ergriffen, als seine Finger sich um meine geschlossen hatten. Und für eine Sekunde   – eine völlig abgehobene, verrückte, wahnsinnige Sekunde   – dachte ich: Wenn ich es nur zulassen könnte, würde sich alles ändern. Alles. In genau diesem Augenblick.Wenn ich ein anderes Mädchen gewesen wäre und das hier eine andere Welt, hätte ich ihn geküsst. Und nichts hätte mich mehr aufgehalten.
    »Okay«, sagte ich zu schnell, fast atemlos. »Ich bin dran.«
    Wes blinzelte mich an, als hätte er vergessen, dass wir spielten. Also hatte er es ebenfalls gespürt.
    »Klar.« Er nickte. »Schieß los. Stell deine Frage.«
    Ich holte tief Luft. »Wenn du absolut alles tun könntest, was du wolltest   – was wäre das?«
    Ich hatte keine Ahnung, was er antworten würde, aber im Grunde wusste ich das vorher nie. Vielleicht würde er sagen, dass er seine Mutter gern noch einmal wiedersähe, oder sich Frieden auf der ganzen Welt oder einen Röntgenblick wünschen, mit dem er durch alles hindurchblicken

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