Zwischen jetzt und immer
ich.
»Da hast du Recht«, entgegnete er.
Ich lehnte mich auf der Ladeklappe des Trucks, die Wes runtergeklappt hatte, damit wir uns draufsetzen konnten, zurück und streckte die Beine aus. Von der Party aus waren wir zur Tankstelle gefahren, wo ich eine große Flasche Mineralwasser sowie eine Packung Aspirin gekauft hatte. Anschließend hatte Wes mich nach Hause gebracht. Meine halbherzigen Proteste, das sei doch nicht nötig und überhaupt, ich müsste doch noch zu meinem Auto, fing er damit ab, dass er mir versprach mich am nächsten Tag persönlich zu meinem Wagen zurückzukutschieren, der ja noch bei Delia stand. Als wir vor unserem Haus ankamen, dachte ich, er würde mich absetzen und gleich weiterfahren. Aber Pustekuchen. Seitdem hockten wir in der Auffahrt, sahen den Glühwürmchen beim Tanzen zu und erzählten uns gegenseitig die Wahrheit.
Allerdings fragte keiner von uns nach dem Moment, in dem ich seine Hand genommen hatte. Im Gegenteil, zwischendurch überlegte ich ernsthaft, ob ich mir das nicht eingebildet hatte. Schließlich war es so heiß gewesen, so chaotisch und verwirrend, dass mir alles, was auf der Party passiert war, völlig unwirklich erschien. Aber dann fiel mir Monicas argwöhnischer, vorwurfsvoller Blick wieder ein und ich wusste, ich hatte es mir nicht eingebildet. Außerdem dachte ich aus irgendeinem Grund des Öfteren an Jason: wie sehr er vor Berührungen zurückscheute, wieeigenartig er in dieser Beziehung war, so dass jede liebevolle Geste, jedes Mal, das ich ihn anzufassen versuchte, ein Risiko mit ungewissem Ausgang dargestellt hatte. Mit Wes dagegen war es vollkommen anders gewesen. Es hatte sich ganz natürlich ergeben.
»Ich hätte nicht mehr so viel Angst«, sagte ich. Wes, der einem fröhlich herumflatternden Glühwürmchen nachgeblickt hatte, wandte den Kopf, um mich anzuschauen. »Ich meine, wenn ich irgendetwas an mir selbst verändern könnte. Das wäre es.«
»Keine Angst mehr haben«, sagte er. Nicht zum ersten Mal ging mir durch den Kopf, was ich an Wes bei diesem Spiel so besonders mochte: dass er meine Antworten nie bewertete. Seine Stimme und sein Gesicht blieben neutral, was mir immer Raum gab weiterzusprechen, wenn ich wollte, zu erklären, was ich meinte. »Wovor denn?«, fügte Wes hinzu.
»Ungeplante Dinge tun. Spontan sein. Wenn ich keine Angst mehr hätte, würde ich nicht dauernd an sämtliche Konsequenzen denken, sondern einfach machen, was mir in den Sinn kommt.«
Er brauchte wie so oft einen Moment, um darüber nachzudenken. »Zum Beispiel?«
Ich nahm einen Schluck aus meiner Wasserflasche, stellte sie wieder neben mir ab. »Zum Beispiel bei meiner Mutter. Es gibt so vieles, das ich ihr gern sagen würde, aber weil ich nicht weiß, wie sie reagiert, lasse ich es lieber.«
»Was denn?«, fragte er. »Was würdest du ihr gern sagen?«
Ich fuhr mit meinem Finger an der Kante der Ladeklappe entlang. »Ich glaube, es geht weniger darum, was ich genau sagen, als darum, was ich tun würde . . .« Ich unterbrach mich, machte eine abwehrende Geste. »Ach, vergiss es. Ich bin dran.«
»Gibst du etwa auf?«, fragte er.
»Natürlich nicht, ich habe die Frage beantwortet!«
Wes schüttelte den Kopf. »Nur den ersten Teil.«
»Das war aber keine zweiteilige Frage.«
»Jetzt ist es eine.«
»So was kannst du nicht bringen, das weißt du genau«, konterte ich. Im Anfang hatte es nur eine einzige Regel gegeben, nämlich dass wir auf jeden Fall die Wahrheit sagen mussten. Doch schon bald hatten wir angefangen, uns ständig wegen irgendwelcher Zusatzregeln und Variationen des Spiels zu kabbeln. Ein paar Mal stritten wir uns über den konkreten Inhalt einer Frage, ein- oder zweimal darüber, ob die Antwort auch vollständig gewesen war, und unzählige Male darüber, wer an der Reihe war. Doch das gehörte alles zum Spiel mit dazu. Wenn allerdings jemand plötzlich anfing, die Regeln
während
einer Frage zu ändern, also mittendrin, wurde das Ganze natürlich noch komplizierter.
Wes schüttelte erneut den Kopf. »Komm, antworte einfach«, sagte er und stieß mich mit dem Ellbogen an.
Ich atmete angespannt durch, stützte mich auf meinen Händen ab und lehnte mich etwas zurück. »Na gut, wenn du es unbedingt wissen willst . . . also, wenn ich könnte, würde ich am liebsten zu meiner Mutter gehen und ihr sagen, was ich ihr in dem Moment eben gerade sagen will, egal was das ist. Vielleicht würde ich ihr erzählen, wie sehr ich meinen Vater vermisse. Oder dass
Weitere Kostenlose Bücher