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Zwischen jetzt und immer

Zwischen jetzt und immer

Titel: Zwischen jetzt und immer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Dessen
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die sie langsam durchblätterte. Aber ihr Missfallen war mehr als deutlich spürbar. Es durchdrang die Luft, war fast zu schmecken und schloss sich um mich wie Nebel.
    Aus dem Wohnzimmer drang Gelächter. Ich warf einen Blick zu der geschlossenen Tür. »Ich sollte wieder zu ihnen gehen«, sagte ich. »Ich möchte nicht unhöflich wirken.«
    Sie fuhr sich mit der Hand durchs Haar und nickte.
    Ich ging zur Tür und wollte sie gerade öffnen, als sie fragte: »Woher hat Kristy Palmetto diese Narben?«
    Plötzlich sah ich Kristy lebhaft vor mir, und zwar genau in dem Moment, in dem sie   – nur wenige Minuten zuvor   – meiner Mutter freundlich und unbekümmert die Hand geschüttelt hatte.
    »Als sie elf war, hatte sie einen Autounfall.«
    »Armes Mädchen.« Meine Mutter schüttelte mitleidig den Kopf und nahm einen Kugelschreiber aus dem Stiftehalter auf ihrem Schreibtisch. »Muss schrecklich für sie sein.«
    »Wie kommst du darauf?« Ehrlich gesagt fielen mir Kristys Narben kaum noch auf. Sie gehörten zu ihrem Gesicht, waren ein Teil von ihr. Ich fand Kristys Outfits inzwischen wesentlich auffälliger, vielleicht aber auch nur deshalb, weil sie ständig wechselten.
    Meine Mutter sah mich an. »Weil sie so entstellt ist. Das Alter, in dem ihr seid, ist so schon schwer genug, auch ohne ein solches Handicap. Sie muss sich vom Schicksal sehr benachteiligt fühlen.«
    »Sie fühlt sich nicht benachteiligt, Mama. Es sind bloß ein paar Narben, nichts weiter.«
    »Trotzdem schade.« Seufzend zog meine Mutter eine Aktenmappe, die am anderen Ende des Schreibtischs lag, näher zu sich heran. »Sonst wäre sie nämlich ein hübsches Mädchen.«
    Sie öffnete die Mappe und begann sich Notizen zu machen. Als wäre ich schon gar nicht mehr da. Doch vor allem, als gäbe es keine andere Meinung als ihre, kein Recht auf Widerspruch.
    Natürlich war Kristy keine Schönheit, dazu waren die Macken zu offensichtlich. Natürlich waren wir über denTod meines Vaters hinweg, schaut euch ruhig bei uns um, alles bestens, wir haben Erfolg, beruflich, in der Schule, uns geht’s gut, ja wunderbar. Doch ich hatte nie den Mund aufgemacht, um ihr zu widersprechen. Deswegen konnte ich niemandem die Schuld an diesem Zustand geben außer mir selbst.
    Mit diesen Gedanken im Kopf kehrte ich in die Küche zurück. Wes hockte mittlerweile neben Kristy und blätterte mit ihr zusammen durch
Southern Living
.
    »Der Krempel ist nicht halb so gut wie deine Sachen.« Kristy deutete auf die aufgeschlagene Seite. »Ich meine, was soll das hier überhaupt darstellen?«
    »Einen Reiher. Aus Gusseisen.« Doch dabei sah Wes mich an, nicht sie. »Glaube ich jedenfalls.«
    »Einen was?« Kristy kniff die Augen zusammen, als könnte sie dadurch besser erkennen, was die Abbildung darstellen sollte. »Ist nicht wahr.«
    Ich trat zu den beiden an die Küchentheke, um mir das Foto selbst anzusehen. Tatsächlich   – ein gusseiserner Reiher. Genau von so was hatte meine Schwester gesprochen.
    »Die sind in Atlanta gerade der Hit«, sagte Wes zu Kristy.
    »Und wie«, fügte ich hinzu.
    Kristy sah erst ihn und dann mich an. »Schön für sie.« Schob ihren Hocker zurück, hüpfte auf den Boden. »Aber jetzt muss ich dringend diesen Wahnsinnsweltuntergang checken.«
    Kristy ging ins Wohnzimmer. Ich blickte ihr nach. Sie schmiss sich in unseren Ohrensessel, ließ ihre Hände über die Armlehnen gleiten, rutschte ein bisschen hin und her, bis sie bequem saß, und legte für einen Moment entspannt den Kopf in den Nacken, bevor sie ihre Aufmerksamkeit auf den Fernseher richtete.
    Wes, der mir gegenüber an der Küchentheke stand, blätterte um. »Alles in Ordnung, ich meine, wegen deiner Mutter?«, fragte er ohne aufzublicken.
    »Ja.« Ich warf einen Blick auf die Zeitschrift. Noch ein eiserner Reiher. »Ich kapiere nicht ganz, was man an den Dingern finden kann«, meinte ich.
    Er deutete erklärend auf das Bild. »Also, zuerst einmal sehen sie sauber und ordentlich aus. Auf einen Blick zu erfassen. Das gefällt den Leuten. Zweitens nehmen sie ein Motiv aus der Natur auf, passen also gut in den Garten. Drittens . . .« Er blätterte noch eine Seite um, zeigte auf den nächsten, dort abgebildeten Reiher. ». . . nimmt der Künstler sich und seine Reiher sehr ernst, wodurch sie zusätzlich einen ganz eigenen Charakter bekommen.«
    Ich betrachtete das Foto des Künstlers, eines hoch gewachsenen Mannes mit weißem Pferdeschwanz, der in nachdenklicher Pose neben einem

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