Zwischen jetzt und immer
nickte. Meine Mutter klemmte sich ihren Ordner unter den Arm. Ich wollte gerade ins Wohnzimmer gehen, da rief sie mich zurück.
»Übrigens, was ich noch vergessen habe . . .« Ihre Stimme drang laut und deutlich durch sämtliche Räume des unteren Stockwerks. »Jason rief vorhin an. Er kommt übers Wochenende nach Hause.«
»Wirklich?«
»Ja, seine Großmutter ist anscheinend schwer krank, deshalb fliegt er für ein paar Tage her. Ich soll dir ausrichten, dass er morgen gegen Mittag ankommt und dann direkt in die Bibliothek fährt, um sich dort mit dir zu treffen.« Damit wandte sie sich abrupt um und ging in ihr Arbeitszimmer.
Ich stand wie angewurzelt da und versuchte diese Nachricht zu verarbeiten. Jason kam nach Hause. Und natürlich hatte meine Mutter nichts Besseres zu tun als genau das vor aller Welt, insbesondere Wes, rauszuposaunen. Wo sie heute Abend doch sonst so großen Wert darauf gelegthatte, ihre Kritik so diskret wie möglich zu äußern. Aber was hatte ich erwartet? Sie wollte mich zurück auf Spur bringen; das hatte sie mit jeder Faser ihres Körpers, mit jeder Nuance ihres Tons ausgedrückt. Dieser letzte Schlag diente einzig und allein dazu, mich in die richtige, in
ihre
Richtung zu schubsen.
Als ich das Wohnzimmer betrat, redete der Moderator gerade lang und breit über den Mega-Tsunami; in sämtlichen gruseligen Einzelheiten beschrieb er, wie ein einziger Vulkanausbruch genügte, um die Kettenreaktion in Gang zu setzen, durch die am Ende die gesamte Küstenregion unseres Kontinents ausgelöscht werden würde. Was braucht man noch für einen Beweis dafür, dass das Leben kurz ist, dachte ich. Vielleicht rumorte es ja bereits heftig im Inneren des Vulkans, in
diesem
Augenblick; vielleicht brodelte die Lava schon hoch, vielleicht entstand gerade der Druck, der immer gewaltiger, immer unerträglicher werden würde, so dass das Ganze am Ende zwangsläufig explodieren musste.
Kristy rutschte auf die breite Lehne des Sessels, um Platz zwischen sich und Wes zu machen, der konzentriert auf den Bildschirm blickte. Ich setzte mich. Er schwieg. Ob er die Bemerkungen meiner Mutter über Jason wohl gehört hatte? Egal. Schließlich waren wir bloß Freunde, nichts weiter.
»Alles klar?«, fragte Kristy. Ich nickte, während ich auf eine Computersimulation der gigantischen Flutwelle starrte. Ein Vulkanausbruch, große Teile Land brachen ab, stürzten ins Meer, eine zwangsläufige Abfolge von Ereignissen, die alle auf das eine, ungeheure Danach hinausliefen, während sich die Welle höher, immer höher aufbaute und über den Ozean raste, wobei sie die Entfernung zwischen Afrika und uns in wenigen Sekunden zu überwinden schien. Meinen Kopf beherrschte nur noch ein einziger Gedanke: Vorunseren Augen – da, auf dem Fernsehbildschirm – bewegte sich die Zukunft in diesen wenigen Sekunden unweigerlich auf ihr eigenes Ende zu. Es gab nichts, worin sich der Ausdruck »für immer und ewig« mit all seinen Bedeutungen und Konsequenzen so deutlich zeigen würde wie beim Ende der Welt. Dem todsicheren, dem unwiderruflichen, dem Ende aller Zeiten.
Kapitel 14
Als ich am nächsten Tag aufwachte, hatte ich so schlechte Laune wie noch nie. Die ganze Nacht über hatte ich kaum geschlafen, sondern mich hin und her gewälzt und wirres, schreckliches Zeug geträumt. Wobei der letzte Traum der Oberhorror war.
Ich ging während der Mittagspause mit meiner Sandwichtüte die Straße vor der Bibliothek entlang. Plötzlich bremste hupend ein Auto neben mir. Als ich den Kopf drehte, sah ich meinen Vater am Steuer sitzen. Er bedeutete mir mit einer Geste einzusteigen, aber gerade als ich die Tür öffnen wollte, machte der Wagen mit quietschenden Reifen einen Satz vorwärts und raste los. Mein Vater drehte sich zu mir um; ich sah deutlich, dass er Angst hatte, konnte jedoch nichts machen, überhaupt nichts, während das Auto unaufhaltsam auf eine dicht befahrene Kreuzung zusteuerte. Ich fing an zu rennen, und obwohl ich träumte, fühlte es sich vollkommen real an: das leichte Ziehen, das ich bei jedem Start am Knöchel verspürte, und das sichere Gefühl, bei diesem Lauf meinen Rhythmus, mein Tempo nicht zu finden. Jedes Mal, wenn ich meinen Vater fast eingeholt hatte, wenn ich glaubte, das Auto irgendwie, irgendwo festhalten zu können, glitt es mir durch die Finger – und damit auch mein Vater.
Keuchend wachte ich auf. Meine Beine hatten sich inmeinen Decken und Laken verheddert. Ich strampelte mich frei und
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