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Zwischen jetzt und immer

Zwischen jetzt und immer

Titel: Zwischen jetzt und immer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Dessen
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gelitten.«
    »Das stimmt zwar, aber ihrer Meinung nach zählt so was nicht«, antwortete ich. »Für sie ist entscheidend, dass ich mich dazu verpflichtet habe. Und zu seinen Verpflichtungen steht man, egal wie man sich dabei fühlt.«
    »Ah ja?«
    »Und dass durch den Job meine Chancen auf ein gutes Übertrittszeugnis zum College erhöht worden wären, war ihr auch sehr wichtig.«
    »Ich verstehe.«
    »Außerdem passt so ein Job in der Bibliothek gut zu ihrem Bild von mir«, sagte ich abschließend.
    »Und wie sieht das aus, dieses Bild?«
    Ich nahm einen Zipfel meines T-Shirts zwischen Daumen und Zeigefinger und dachte an die beiden Gespräche   – heute Morgen, gestern Abend   –, die wir geführt hatten, meine Mutter und ich. »Perfekt«, antwortete ich.
    Delia schüttelte den Kopf. »Ach was.« Sie wedelte mit der Hand, als wollte sie den Gedanken verscheuchen. »Eskann doch nicht wirklich ihr Ziel sein, dass aus dir ein perfekter Mensch wird.«
    »Und warum nicht?«
    »Zum einen ist so etwas unmöglich.« Sie verlagerte ihr Gewicht, lehnte sich dann aufs Neue etwas zurück. »Außerdem ist sie deine Mutter. Und gerade für Mütter ist so was nicht wichtig.«
    »Ja klar«, nickte ich düster.
    »Ich mein’s ernst.« Delia streckte die Beine aus und legte beide Hände wie beschützend auf ihren Bauch. »Ich kenne mich damit aus, schließlich bin ich selbst Mutter. Und ich will für Lucy und Wes und Bert nur eins: dass sie glücklich sind. Gesund. Und gute Menschen natürlich. Nicht vollkommen, aber gut. Ich bin ja selbst nicht perfekt, im Gegenteil. Da kann ich das von ihnen wirklich nicht verlangen. Und warum sollte ich überhaupt?«
    Ich schüttelte den Kopf. »Meine Mutter ist anders.«
    »Inwiefern?«
    Während ich darüber nachdachte, wie ich diese Frage beantworten sollte, wunderte ich mich, dass ich nicht schneller darauf kam. Dass es gar nicht so leicht war, diese Frage zu beantworten. »Sie arbeitet zu viel«, fing ich schließlich an, unterbrach mich jedoch gleich wieder. »Ich meine, seit dem Tod meines Vaters steht und fällt die Firma mit ihr. Und sie ist immer so im Stress, hat so viel zu tun, dass ich mir Sorgen um sie mache. Sogar ziemlich große Sorgen.«
    Delia schwieg, aber mir war bewusst, dass sie mich von der Seite ansah.
    »Ich glaube, sie arbeitet so viel, um immer alles unter Kontrolle zu haben. Weißt du, was ich meine?«, fuhr ich fort.
    Delia nickte.
    »Außerdem glaube ich, es hat damit zu tun, dass sie sich nur dann sicher fühlt.«
    »Was ich verstehen kann«, meinte Delia leise. »Wenn man einen Menschen verliert, hat man leicht das Gefühl, auch die Kontrolle zu verlieren. Und zwar vollständig.«
    »Ich weiß«, sagte ich. »Trotzdem ist es nicht fair. Weißt du, nachdem mein Vater gestorben war, habe ich versucht mich zusammenzureißen. Ihretwegen. Ich habe so getan, als wäre alles okay, selbst wenn es mir schwer fiel. Aber jetzt, wo’s mir endlich gut geht, ist sie unzufrieden mit mir. Weil ich nicht mehr perfekt bin.«
    »Trauern macht einen nicht zu einem perfekten oder nicht perfekten Menschen«, sagte Delia ruhig. »Trauern macht einen überhaupt erst zu einem Menschen.«
    Im Hintergrund wuselte Bert um den Lieferwagen rum, rückte einen der Servierwagen zurecht.
    »Jeder von uns hat seine Art, mit dem Leben klarzukommen«, fuhr Delia fort. »Deine Mutter vermisst deinen Vater sicher schrecklich, Tag für Tag. Nur eben auf ihre Art. Sprich sie doch mal drauf an.«
    »Geht nicht«, sagte ich. »Wenn ich ihn nur erwähne, macht sie dicht. Ich habe es heute Morgen versucht, zum ersten Mal seit ewig langer Zeit   – sie
will
nicht über ihn reden.«
    »Versuch’s noch mal.« Sie rückte etwas näher an mich heran und legte einen Arm um meine Schulter. »Jeder trauert nicht nur auf seine eigene Weise, sondern auch in seinem eigenen Tempo. Vielleicht bist du ihr momentan ein Stück voraus, aber irgendwann kommt sie auch an den Punkt, an dem du jetzt stehst. Das Wichtigste ist, nicht aufzugeben; ihr müsst immer wieder versuchen, miteinander zu sprechen, auch wenn es zunächst schwer fällt. Aber es wird leichter, das weiß ich aus Erfahrung.«
    Mit einem Mal fühlte ich mich so erschöpft, dass ich meinen Kopf an ihre Schulter lehnte. Schweigend strich sie mir übers Haar.
    »Danke«, sagte ich.
    »Sehr gern geschehen, Liebes«, antwortete sie. Ich konnte das Vibrieren ihrer Stimme an meiner Wange spüren.
    Mindestens eine, wenn nicht sogar zwei Minuten saßen wir so

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