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Zwischen jetzt und immer

Zwischen jetzt und immer

Titel: Zwischen jetzt und immer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Dessen
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wenigen Wochen mein Ideal gewesen. Vor die Wahl gestellt hätte ich mich immer dafür entschieden, sogar freiwillig. Doch inzwischen konnte ich es kaum fassen, dass mir diese Art von schweigsamer, stiller, gleichförmiger Existenz, diese Begrenztheit mal lieber gewesen waren. Aber damals hatte ich ja auch noch nicht gewusst, dass es Alternativen gab.
    »Ich denke mal, dass Caroline nächste Woche vorbeikommt.« Meine Mutter legte ihre Gabel auf den Teller und tupfte sich mit einer Serviette die Lippen ab.
    »Ja, Donnerstag, glaube ich.«
    »Wir sollten alle zusammen zu Abend essen, damit wir uns in Ruhe unterhalten können.«
    Ich trank einen Schluck Wasser. »Klar.«
    Es musste meiner Mutter doch klar sein, wie unglücklich ich war. Aber das schien überhaupt nicht zu zählen; ihr warbloß wichtig, dass ich wieder
ihre
Macy war   – die Macy, an deren Gegenwart sie sich gewöhnt hatte, die Macy, bei der sie sich darauf verlassen konnte, dass sie immer zur Stelle, immer in Hörweite war. Ich kam überpünktlich zur Arbeit, saß aufrecht an meinem Schreibtisch und ließ den ganzen Tag mit den immer gleichen Abläufen über mich ergehen, die Anrufe, bei denen ich Floskeln abspulte, die Interessenten, die ich mit einem strahlenden Lächeln begrüßte. Meine »Freizeit«, also die anderthalb Stunden nach dem Abendessen, verbrachte ich allein und tat nur, was erlaubt war. Wenn ich anschließend heimkam, steckte meine Mutter prompt den Kopf durch die Tür ihres Arbeitszimmers, um sicherzugehen, dass ich genau da war, wo ich sein sollte. Ich
war
da, natürlich war ich da. Und fühlte mich hundeelend dabei.
    »Dein Salat ist heute wieder köstlich.« Meine Mutter nahm ihr Weinglas, trank einen Schluck.
    »Danke«, antwortete ich. »Aber dein Huhn schmeckt auch sehr gut.«
    »Findest du? Freut mich.«
    Um uns herum war das Haus dunkel. Dunkel und still. Leer.
    »Ja, sehr lecker«, sagte ich.
     
    Ich vermisste Kristy. Ich vermisste Delia. Doch am meisten vermisste ich Wes.
    Am Abend des ersten Tags, an dem meine Mutter ihr Strafgericht über mich verhängt hatte, rief Wes an. Ich saß auf meinem Bett und grübelte vor mich hin; meine Sommerferien dehnten sich schrecklich lang und öde vor mir. Da vibrierte plötzlich mein Handy. Ich hatte mir sowieso schon den ganzen Tag über selbst Leid getan, aber in demMoment, als ich auf die Taste zum Annehmen des Gesprächs drückte und Wes’ Stimme hörte, wuchs mein Selbstmitleid geradezu ins Unermessliche.
    »Hi«, sagte er. »Wie geht’s?«
    »Frag nicht.«
    Er fragte natürlich trotzdem nach. Und hörte natürlich teilnahmsvoll zu. Gab genau die passenden mitfühlenden Laute von sich, während ich ihm von meinem Hausarrest und den anderen Einschränkungen meiner Freiheit, die sich meine Mutter für mich ausgedacht hatte, sowie der gar nicht so unwahrscheinlichen Möglichkeit erzählte, dass wir einander vielleicht nie wiedersehen würden. Dass sie mir den Umgang mit ihm und den anderen von
Wish Catering
verboten hatte, sprach ich zwar nicht direkt aus, hatte jedoch das Gefühl, er ahnte es sowieso.
    »Das wird schon«, meinte er. »Es hätte noch viel schlimmer kommen können.«
    »Wie denn?«
    Während Wes   – wie immer lange und gründlich   – darüber nachdachte, wie er antworten würde, war außer dem leichten Summen der Verbindung von Telefon zu Handy nichts zu hören, gar nichts.
    »Sie hätte dir den Hausarrest bis in alle Ewigkeit aufbrummen können«, meinte er schließlich.
    »Das geht jetzt so bis zum Ende der Sommerferien weiter«, sagte ich. »Und ich finde, das
ist
eine Ewigkeit.«
    »Nein. Es kommt dir nur so vor, weil heute der erste Tag ist. Aber wart’s ab, die Zeit vergeht schnell.«
    Wes hatte gut reden. Während mein Leben fast vollständig zum Stillstand kam, hatte er alle Hände voll zu tun, und zwar mehr denn je. Seine Skulpturen waren mittlerweile so gefragt, dass er kaum noch nachkam. Wenn er nicht inseiner Werkstatt stand und schweißte, fuhr er bei den Geschäften   – überwiegend Gartencenter oder Einrichtungshäuser   – vorbei, die seine Stücke in Kommission nahmen, um Nachschub zu liefern und neue Bestellungen entgegenzunehmen. Abends jobbte er als Fahrer für
À la Carte
, ein Delikatessengeschäft, das sich darauf spezialisiert hatte, Gourmetvorspeisen in Restaurantqualität direkt nach Hause zu liefern. In letzter Zeit telefonierten wir eigentlich fast nur noch miteinander, wenn er gerade im Wagen saß, um irgendetwas irgendwohin

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