Zwischen jetzt und immer
Arbeitszimmer führte. Ich blieb weiter sitzen. Meine Mutter holte ihre Aktenmappe, verabschiedete sich von Caroline und verließ das Haus. Mit einem dumpfen Knall fiel die Tür hinter ihr ins Schloss.
Eine Sekunde später kam meine Schwester die Treppe herunter. »Das war übel«, meinte sie.
»Ich darf mich nicht mehr mit meinen Freunden treffen. Ich darf überhaupt nichts mehr.«
»Sie entspannt sich auch wieder.« Doch der Blick, den Caroline Richtung Haustür warf, verriet, dass sie selbst nicht ganz glaubte, was sie sagte. Und ihr Ton verriet es auch. »Hoffentlich«, setzte sie hinzu.
Aber sie würde sich nicht entspannen. Würde nicht nachgeben. Denn zwischen meiner Mutter und mir bestand eine stillschweigende Übereinkunft: Wir arbeiteten gemeinsam daran, unsere gemeinsame Welt gemeinsam so gut unter Kontrolle zu haben, wie wir überhaupt nur konnten. Meine Aufgabe war es, ihre zweite Hälfte, ihr Gegengewicht zu bilden, indem ich meinen Teil der Last trug. In den vergangenen Woche hatte ich versucht diese Last loszuwerden. Dadurch war alles aus dem Gleichgewicht geraten. Deshalbwar es nur logisch, dass sie mich wieder stärker an sich band, mich auf meinen Platz verwies. Denn nur so konnte sie sich ihres eigenen Platzes und letztlich ihrer selbst wirklich sicher sein. Zumindest ein bisschen, irgendwie . . .
Ich ging in mein Zimmer, setzte mich aufs Bett und lauschte still auf die Geräusche der Welt um mich herum. Irgendwer mähte eine Wiese, bei jemand anderem lief surrend die Rasensprenganlage, ein paar Kinder fuhren in der Sackgasse zwischen den Häusern Fahrrad, immer im Kreis. Und irgendwann hörte ich Schritte auf dem Gehweg. Ein Jogger. Ich blickte auf die Uhr: fünf nach neun. Die Schritte kamen näher, wurden lauter, wurden langsamer – der Jogger lief direkt an unserem Haus vorbei. Ich spähte durch die Jalousien vor meinem Fenster. Wes. Wer sonst? Er verlangsamte sein Tempo, bis er fast stehen blieb. Als hoffte er, dass ich rauskommen und mitlaufen oder zumindest Hallo sagen würde. Vielleicht wollte er mir ja auch wirklich die Frage aller Fragen stellen. Ich rührte mich nicht. Ich konnte nicht. Ich saß da und ließ es einfach nur auf mich wirken: das, was meine Sommerferien von nun an ausmachen würde.
Irgendwann wurden die Schritte schneller. Und Wes war wieder verschwunden.
Kapitel 17
Dienstagabend, Punkt Viertel nach sechs. Meine Mutter und ich aßen zu Abend und unterhielten uns. Smalltalk. Was allerdings, seit wir zusammen arbeiteten, leichter war als vorher, weil es immer irgendein unverfängliches Thema gab, worüber wir sprechen konnten.
»Ich glaube, der Verkauf der Villen wird in dieser Woche noch mal anziehen.« Sie nahm sich noch etwas Brot und hielt mir den Korb hin, doch ich lehnte dankend ab. »Findest du nicht auch, dass das Interesse in letzter Zeit gestiegen ist?«
Anfangs hatte ich meiner Mutter sehr deutlich gezeigt, was ich von ihr und ihren Bestrafungsmethoden hielt, allerdings schnell gemerkt, dass mir das nichts nützte, eher im Gegenteil. Deshalb hatte ich mir eine nichts sagende, aber höfliche Maske zugelegt. Ich antwortete, wenn sie mich ansprach, aber nur das Allernötigste.
»Ja, es scheinen tatsächlich viele spontan vorbeigeschaut zu haben.«
»Da hast du Recht.« Sie nahm ihre Gabel in die Hand. »Wir müssen einfach abwarten, schätze ich.«
Nach dem Essen blieben mir noch etwa anderthalb Stunden, bis ich endgültig für den Rest des Abends zu Hause sein musste. Falls ich nicht zum Yoga oder in den Buchladenging, um ein bisschen rumzuschmökern und einen Espresso zu trinken (die einzigen genehmigten »Freizeitvergnügungen«, die mir noch geblieben waren), würde ich eben fernsehen, meine Klamotten für den nächsten Tag bügeln und zurechtlegen oder bei weit offenem Fenster auf meinem Bett hocken und Wortschatzübungen für den College-Vorbereitungskurs machen. Wenn ich in dem Buch zurückblätterte, konnte ich verfolgen, wie ich mir zu Beginn der Sommerferien noch sorgfältig Notizen neben den schwierigeren Ausdrücken gemacht oder die Präfixe und Suffixe unterstrichen hatte. Irgendwie ein komisches Gefühl, das so schwarz auf weiß vor Augen zu haben, denn jetzt schrieb ich praktisch nichts auf, ja konnte mich mittlerweile kaum mehr daran erinnern, diese Notizen gemacht zu haben. Als wäre ich nicht mehr dieselbe, sondern irgendein anderes Mädchen, das zufällig dasselbe Buch benutzte.
Das Leben, das ich jetzt führte, war noch vor
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