Zwischen jetzt und immer
–«
»Glücklich!«, fiel Caroline ihr ins Wort. »Endlich fing siewieder an, ihr eigenes Leben zu leben. Und das hat dir Angst gemacht. Genauso wie ich dir Angst gemacht habe, weil ich das Ferienhaus renovieren wollte. Du hältst dich selbst für so stark, weil du nie über Papa sprichst. Aber sich verstecken, Dinge verdrängen, das kann jeder. Sich ihnen stellen, durch sie hindurchgehen, sie ertragen und trotzdem weitermachen –
das
ist echte Stärke!«
»Ich habe alles für diese Familie gegeben«, stieß meine Mutter zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Alles. Aber dir reicht es immer noch nicht.«
»Ich will doch gar nicht alles von dir.« Caroline vergrub das Gesicht in den Händen und atmete tief durch, bevor sie ihre Hände wieder herunternahm. »Ich bitte dich nur darum, mir und Macy und vor allem dir selbst zu gestatten, dass wir uns an Papa erinnern . . .«
Meine Mutter atmete geräuschvoll aus und schüttelte den Kopf.
». . . und ich bitte dich um eine Woche Lebenszeit, um endlich damit anzufangen.« Caroline sah erst mich und danach wieder meine Mutter an. »Das ist alles.«
Danach schwiegen wir alle drei so lange, dass ich schon anfing zu denken, meine Mutter würde vielleicht – ganz vielleicht – nachgeben. Sie hatte die Arme vor der Brust verschränkt und blickte durchs Fenster zu den Häusern auf der gegenüberliegenden Straßenseite rüber.
»Ich muss hier bleiben«, meinte sie schließlich. »Ich kann nicht wegfahren.«
»Es ist bloß eine Woche«, antwortete Caroline, »keine Ewigkeit.«
»Ich kann nicht wegfahren«, wiederholte meine Mutter. »Tut mir Leid.« Sie ging zurück in ihr Büro, ganz gerade und aufrecht. Steif. Schloss die Tür hinter sich. Dann horchteich auf die vertrauten Laute: das leise Quietschen der Rollen an ihrem Schreibtischstuhl, das Klicken in der Leitung, als sie abhob, um sich mit Rathka zu befassen, das Klappern der Tastatur ihres PCs. Aber im Grunde hörte ich . . . nichts. Als wäre sie hinter dieser Tür vom Erdboden verschluckt worden.
Meine Schwester kämpfte ihre Tränen nieder, drehte sich um, ging zum Ausgang. »Caroline«, sagte ich, aber da stand sie auch schon draußen. Lief die Stufen hinunter.
Ich überlegte, ob ich ihr nachlaufen sollte. Ich hätte so gern etwas gesagt, um sie zu trösten, um alles wieder in Ordnung zu bringen, hatte allerdings keine Ahnung, was.
Keine Ewigkeit
hatte sie gesagt, doch das spielte für meine Mutter keine Rolle. Von ihrem Standpunkt aus bedeutete eine Woche Wegfahren dasselbe wie eine Ewigkeit. Sie hatte sich für einen Weg entschieden. Und auf dem blieb sie. Hier, wo sie sich sicher fühlte, in einer Welt, die sie – zumindest weitestgehend – unter Kontrolle hatte.
Meine Schwester saß mittlerweile am Steuer ihres Wagens und wischte sich über die Augen. Hilflos hörte ich, wie sie den Motor anließ, hilflos sah ich, wie sie den Blinker setzte und sich in den Verkehr auf der Straße einfädelte. Nachdem sie davongefahren war, konnte ich das Schild auf der gegenüberliegenden Straßenseite, vor dem sie geparkt hatte, zur Gänze erkennen. WEITERE ATTRAKTIVE OBJEKTE SIND GEPLANT stand da. Und – als wäre das so einfach oder immer erstrebenswert – LUST AUF VERÄNDERUNG? KOMMEN SIE ZU UNS!
Um fünf Uhr war die Tür zum Büro meiner Mutter noch immer geschlossen und dahinter herrschte Stille. Ich stand auf. Bevor ich das Modellhaus verließ, überlegte ich kurz,ob ich an die Tür klopfen und mich erkundigen sollte, ob alles okay sei. Doch dann sammelte ich meine Sachen zusammen und ging, wobei ich die Tür laut und vernehmlich hinter mir schloss, damit sie wusste, dass ich weg war.
Als ich auf unser Haus zulief, entdeckte ich das Paket sofort: klein, kompakt, rechteckig lag es auf dem Fußabtreter direkt vor der Haustür. Waterville, Maine, schoss es mir durch den Kopf, noch bevor ich nahe genug herangekommen war, um den Absender entziffern zu können. Ich hob das Paket auf und nahm es mit hinein.
Im Haus war es kühl und still. In der Küche stellte ich das Paket auf der Arbeitsplatte ab, holte die Küchenschere aus der Schublade. Öffnete es.
Zwei Bilder fielen mir entgegen. Auf dem einen hing ein gigantischer Schlüsselbund, der aussah, als wöge er fast hundert Kilo, an einer Gürtelschlaufe. Auf dem zweiten sah man wieder die Gürtelschlaufe, nur dass jetzt etwas Kleines, Viereckiges aus Plastik, so was wie ein Maßband oder Zollstock, mit mehreren
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