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Zwischen jetzt und immer

Zwischen jetzt und immer

Titel: Zwischen jetzt und immer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Dessen
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kleinen, subtilen Zeichen: Wie sie kurz im Vorbeigehen meine Schulter drückte; wie ihre Hand glättend über mein Haar strich; wie sie mit einer Art siebtem Sinn erkannte, ob ich müde war oder Hunger hatte. Dennoch sehnte ich mich manchmal danach, dass mich jemand fest an sich drückte, wollte spüren, wie ein anderes Herz neben meinem schlug; dabei hatte ich früher oft gezappelt, um mich zu befreien, wenn mein Vater seine Arme um mich schlang und mich festhielt, bis ich Angst bekam, dass mir die Luft wegblieb. Ich hätte nie geglaubt, dass mir diese überschwänglichen, bärentapsigen Umarmungen mal fehlen würden. Aber so war es.
    »Ich bin wahrscheinlich bloß müde«, antwortete ich. Meine Mutter nickte mir beruhigt zu: Dieses Gefühl war ihr vertraut. »Morgen läuft es bestimmt schon besser.«
    »Ja.« Ihre Stimme klang vollkommen überzeugt von dem, was sie sagte. Aber glaubte sie ihren eigenen Worten oder tat sie vielleicht einfach nur so? Schwer zu sagen, wirklich schwer. »Natürlich, morgen geht bestimmt alles besser.«
     
    Nach dem Essen ging ich auf mein Zimmer und schaffte es, nach mehreren Anläufen und ziemlich häufigem Löschen von viel Text eine   – wie ich fand   – nette, liebevolle,aufrichtige und trotzdem nicht zu gefühlsduselige E-Mail an Jason zu formulieren. Ich beantwortete all seine Fragen wegen des Jobs und hängte eine von ihm erbetene Datei an: eine Liste aller Recycling-Aktionen und -Maßnahmen, die er an unserer Schule eingeführt hatte und jetzt jemandem, den er im Schlaumeiercamp kennen gelernt hatte, zeigen wollte. Erst dann erteilte ich mir selbst die Erlaubnis, vom Organisatorischen zum Persönlichen überzuwechseln.
    Ich vermute, dir kommt das, was sich zwischen uns in der Bibliothek abspielt, kleinlich, melodramatisch und übertrieben vor,
schrieb ich.
Aber ich denke, es liegt vor allem daran, dass du mir fehlst und ich mich einsam fühle; außerdem ist es nicht gerade leicht, jeden Tag wohin zu gehen, wo man so offensichtlich nicht willkommen ist. Ich freue mich jedenfalls schon sehr auf deine Rückkehr.
    Ich bildete mir ein, diese Sätze würden meine Gefühle etwa auf dem gleichen zurückhaltenden Level ausdrücken wie meine unaufdringlichen Berührungen sonst, zum Beispiel, wenn ich ihn kurz liebevoll am Arm fasste oder beim Fernsehen mein Knie an seins lehnte. Wenn man nichts anderes zur Verfügung hat als Worte, muss man Ersatz finden für Gesten und aussprechen, was man sonst gar nicht aussprechen müsste. Davon war ich so überzeugt, dass ich sogar noch einen Schritt weiterging, die E-Mail mit
Ich liebe dich. Macy
beendete und dann auf das Icon SENDEN drückte, bevor ich es mir anders überlegen konnte.
    Fertig. Ich ging zum Fenster, schob es hoch und kletterte nach draußen. Es hatte geregnet, ein kurzes Sommergewitter; die Luft war immer noch leicht abgekühlt, die Welt tropfend nass. Ich setzte mich auf die Fensterbank und stellte meine bloßen Füße auf die Dachziegel. Von meinemVordach aus hat man den besten Blick, den unser jetziges Haus zu bieten hat, sieht über Wildflower Ridge hinweg zu den Lichtern des Einkaufszentrums von Lakeview und sogar bis zum Glockenturm der Universität im Hintergrund. Auch in unserem alten Haus hatte mein Zimmer eine besondere Eigenschaft gehabt, und zwar wegen des einzigen Fensters, das auf die Straße hinausging   – und dem Baum davor, an dem man gut runterklettern konnte, weil seine Zweige bis an die Hauswand reichten. Deswegen eignete sich mein damaliges Schlafzimmerfenster hervorragend als alternative »Haustür« und wurde als solche häufig genutzt. Allerdings nicht von mir, sondern von Caroline.
    Ab der siebten Klasse war Caroline, wie meine Mutter immer sagte, ganz »versessen auf Jungs« und deshalb bloß schwer unter Kontrolle zu halten   – was ununterbrochenen Kampf und drastische Maßnahmen meiner Eltern bedeutete, die dann doch nichts nützten. Hausarrest, eingeschränkte Telefonierzeiten, Taschengeldkürzungen, Autofahrverbot, Schlösser am Wohnzimmerschrank, in dem der Alkohol stand, Riechtests an der Haustür, wenn sie heimkam . . . Großes Melodram. Türen wurden geknallt, mit Füßen gestampft, Stimmen erhoben, beim Frühstück, beim Abendessen, im Wohnzimmer, in der Küche. Doch nicht immer ging es so laut und leidenschaftlich zu; vieles, das verboten war, spielte sich unter dem Mantel des Schweigens und der Dunkelheit ab. Heimlich. Mit mir als einzigem Publikum, alleiniger Zeugin, die gemütlich

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