Zwischen jetzt und immer
du mit meinem Passwort in die überregionale Datenbank reingekommen?
Es folgten ein paar Hinweise auf Dinge, die ich unbedingt noch erledigen sollte. Und schließlich:
Falls du Schwierigkeiten mit Bethany und Amanda hast, sprich sie einfach offen darauf an. Persönliche Befindlichkeiten gehören nicht an den Arbeitsplatz.
Als schriebe mir nicht mein Freund, sondern ein Vorgesetzter. Ich war auf mich allein gestellt, zumindest das stand jetzt fest.
»Schatz?«
Ich blickte auf. Meine Mutter, die mir gegenübersaß, betrachtete mich mit leicht besorgtem Gesicht. Ihre Gabel schwebte reglos über dem Teller. Obwohl wir nur noch zu zweit im Haus wohnten, aßen wir immer am großen Tisch im Esszimmer. Das gehörte zu unseren Ritualen, genauso wie: Sie war fürs Hauptgericht, ich für Salat oder Gemüse zuständig und wir zündeten zu jeder Mahlzeit Kerzen an. Des Weiteren aßen wir jeden Tag pünktlich um sechs; danach stellte sie das Geschirr in die Spülmaschine – nicht ohne es vorher kurz unter den Wasserhahn zu halten –, während ich Tisch plus Arbeitsflächen abwischte und die Reste vom Essen wegräumte. Zumindest in dem Punkt hatte sich nicht viel geändert. Denn da sowohl mein Vater als auch Caroline zu den Menschen gehörten, die das Thema Ordnung und Sauberkeit ziemlich entspannt sahen, waren meine Mutter und ich schon immer die Aufräumer der Familie gewesen. Jetzt, ohne die beiden, war es höchstens noch sauberer und ordentlicher als vorher. Ich kann einen Krümel aus einem Kilometer Entfernung erspähen. Meine Mutter ebenfalls.
»Ja?«, sagte ich.
»Alles in Ordnung?«
Am liebsten hätte ich die Frage wahrheitsgemäß beantwortet. Das wünschte ich mir übrigens jedes Mal, wenn sie mir die Frage stellte, denn ich hätte meiner Mutter so gern so viel erzählt; zum Beispiel, wie sehr ich meinen Vater nach wie vor vermisste, wie oft ich immer noch an ihn dachte . . . Aber ich hielt mich – zumindest in den Augen meiner Umwelt – schon seit so langer Zeit so tapfer, dass es mir wie Scheitern vorgekommen wäre, zuzugeben, wie anders es in meinem Inneren aussah. Diese Chance hatte ich verpasst, wie so viele andere auch.
Ich hatte mir nie wirklich gestattet zu trauern, war übergangslos von einem reinen Schockzustand zu meinem Alles-in-Ordnung-Lächeln gewechselt, hatte alles dazwischen einfach ausgelassen. Doch mittlerweile wünschte ich mir, ich hätte um meinen Vater ebenso herzzerreißend und bitterlich geweint wie Caroline. In den Tagen nach der Beerdigung herrschte bei uns ein ständiges Kommen und Gehen; Verwandte und andere Leute tummelten sich im Haus, brachten Essen vorbei, hockten in unterschiedlichen Konstellationen um den Küchentisch, aßen, tranken und erzählten sich Geschichten über meinen Vater und was für ein großartiger Mensch er gewesen war. Ich stand dann fast immer reglos im Türrahmen und schüttelte jedes Mal den Kopf, wenn mich jemand ansah und signalisierte: Hier ist noch ein Stuhl frei, setz dich doch zu uns. Ich beherrschte mich, hielt mich zurück, blieb reserviert. Mittlerweile wünschte ich mir jedoch, ich hätte damals anders reagiert. Vor allem wünschte ich mir, ich hätte mich in die ausgebreiteten Arme meiner Mutter – die wenigen Male, die sie ihre Arme ausgebreitet hatte – geworfen, mein Gesicht an ihrer Schulter vergraben und versucht Trost für mein trauriges Herz zu finden. Aber ich war nie darauf eingegangen. Ich wollte ihr helfen statt sie noch mehr zu belasten, deshalb hielt ich mich zurück. Bis sie aufhörte mir ihren Trost, ihre Umarmungen anzubieten. Während sie dachte, ich wäre drüber weg, bräuchte ihre Unterstützung nicht mehr, hätte ich ihrer jetzt, im Hier und Heute, mehr bedurft denn je.
Mein Vater war immer der Liebevollere, Wärmere von den beiden gewesen, zumindest in der Art, wie er es zeigte, wie er zum Beispiel im Vorbeigehen mein Haar verwuschelte. Und er war geradezu berühmt für seine liebevollen Umarmungen, vielmehr Zerquetschungen. Er drückte einenmit seinen großen Händen so fest an sich wie ein Bär. Weil er diese kraftvolle, positive Ausstrahlung hatte, konnte mein Vater einen ganzen Raum mit seiner Anwesenheit füllen, so dass ich immer das Gefühl hatte, ganz dicht bei ihm zu sein, selbst wenn wir nicht direkt nebeneinander standen. Meine Mutter hingegen war wie ich ein Mensch, der seine Gefühle nicht so deutlich zeigte. Trotzdem wusste ich, genau wie bei Jason, dass sie mich liebte, erkannte es an den
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