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Zwischen jetzt und immer

Zwischen jetzt und immer

Titel: Zwischen jetzt und immer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Dessen
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sorgfältig ich mir jedes Wort überlegte   – am Ende spürte ich aus jeder einzelnen Zeile den Kummer und die Verzweiflung, die mich beim Schreiben überfielen. Zwischen den Buchstaben traten mir meine Fehler und mein Versagen wie mutlose, traurige Gestalten entgegen. Deshalb entschied ich mich schließlich für die Antwort, die mir am sichersten erschien, nämlich gar keine. Da ich nichts mehr von ihm gehört hatte, nahm ich an, dass er mein Schweigen für Zustimmung hielt. Wahrscheinlich war es ihm ohnehin am liebsten so.
    Auf meinem Weg zur Bibliothek stand ich an einer Ampel plötzlich hinter einem Krankenwagen, worauf ich sofort wieder an
Wish Catering
denken musste. Was nichts Neues war, denn seit Freitag hatte ich eigentlich ständig daran gedacht. Außerdem hatte meine Mutter das T-Shirt mit dem Rotweinfleck in der Waschküche entdeckt, wo es still und leise in Chlorbleiche vor sich hin weichte. Also musste ich ihr notgedrungen von meinem neuen Job erzählen.
    »Du hast doch schon einen Job, mein Schatz.« Ihre Stimme klang eher fragend denn missbilligend. Es war ja auch noch früh am Tag.
    »Ich weiß«, antwortete ich. Meine Mutter warf einen prüfenden Blick auf das T-Shirt , vielmehr den Fleck. »Aber als ich Delia am Freitag zufällig im Supermarkt getroffen habe, kam sie mir so hektisch und überlastet vor, dass ich ihr spontan meine Hilfe anbot. Ich meine, ich habe es nicht geplant oder so.« Zumindest das entsprach vollständig der Wahrheit.
    Meine Mutter schloss die Waschmaschinentür, verschränkte die Arme vor der Brust und sah mich an. »Ich habe bloß Angst, dass du dich überforderst. Mit deiner Arbeit in der Bibliothek hast du eine große Verantwortungübernommen. Jason verlässt sich drauf, dass du dich voll und ganz auf deine Aufgaben dort konzentrierst.«
    In einem anderen Leben wäre das der ideale Augenblick gewesen, um meiner Mutter von Jasons einsamem Entschluss und unserer Trennung zu erzählen. Aber ich tat es nicht. Für meine Mutter war ich die gute Tochter   – die, bei der sie sich darauf verlassen konnte, dass sie genauso zielstrebig und ehrgeizig war wie sie selbst. Aus irgendeinem Grund wusste ich, dass ich in ihrer Achtung sinken würde, wenn sie von der Trennung erfuhr, vor allem weil sie von Jason ausgegangen war. Schlimm genug, dass ich das Gefühl hatte, Jasons Erwartungen nicht zu entsprechen. Für meine Mutter würde das noch viel schlimmer sein.
    »Das mit dem Catering mache ich ja bloß sporadisch«, sagte ich. »Ich werde mich davon nicht ablenken lassen. Wer weiß, vielleicht gibt es gar kein zweites Mal. Es hat bloß . . . ich meine, es war okay. Hat Spaß gemacht.«
    »Spaß?« Sie wirkte so überrascht, als hätte ich ihr gerade erzählt, ich fände es schön, meinen Arm mit Nägeln zu durchbohren. Weil es Spaß machen würde. »Ich stelle es mir schrecklich vor, die ganze Zeit auf den Beinen zu sein und all diese Leute zu bedienen. Außerdem . . . also, mir kommt die Frau ziemlich chaotisch und unorganisiert vor. Ich würde verrückt werden, glaube ich.«
    »Das war bloß bei uns so«, erwiderte ich. »Letzten Freitag lief die Sache völlig anders.«
    »Wirklich?«
    Ich nickte. Noch eine Lüge. Aber meine Mutter hätte sowieso nicht begriffen, warum ich mich in gewisser Weise zu dem Chaos hingezogen fühlte, das in Delias Catering-Welt herrschte. Ich war mir nicht mal sicher, ob ich es überhaupt hätte erklären können, wusste nur eins: DasWochenende selbst war sehr, sehr anders gewesen als die paar Stunden am Freitagabend davor. Tagsüber hatte ich brav meine Pflichten erfüllt, ging zum Yoga, erledigte die Wäsche, putzte mein Badezimmer und versuchte, diese E-Mail an Jason zu schreiben. An beiden Tagen, Samstag und Sonntag, aß ich sowohl mittags als auch abends immer zur selben Zeit, benutzte jeweils denselben Teller, dieselbe Schüssel, dasselbe Glas, wusch sie nach jeder Mahlzeit ab, stellte sie ordentlich zum Abtropfen hin und ging um elf ins Bett, obwohl ich   – wenn überhaupt   – selten vor zwei einschlief. Achtundvierzig Stunden lang redete ich mit keinem Menschen, bis auf die üblichen paar Werbeanrufe. Es war so still, dass ich manchmal am Küchentisch saß und mir selbst beim Atmen zuhörte   – als bräuchte ich inmitten all der Ordnung und Sauberkeit einen Beweis dafür, dass ich lebte.
    »Okay, warten wir ab, wie sich die Dinge entwickeln«, hatte meine Mutter gesagt. Ich beugte mich vor und stellte die Waschmaschine an. Gurgelnd

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