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Zwischen jetzt und immer

Zwischen jetzt und immer

Titel: Zwischen jetzt und immer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Dessen
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mich fünf Sekunden in Ruhe telefonieren, sei so lieb, okay? Schau mal, hier . . . dein Häschen.«
    Ich wartete, den Hörer in der Hand, während das Weinen langsam wieder leiser wurde, erst in ein Schnüffeln, dann in einen Schluckauf überging und schließlich ganz aufhörte.
    »Entschuldige bitte, Macy«, sagte sie. »Bist du noch da?«
    »Ja.«
    Sie seufzte. Einer dieser abgrundtiefen, erschöpften Seufzer, die ich bereits als typisch Delia empfand, obwohl ich sie kaum kannte. »Ich rufe an, weil ich einen Engpass habe und dringend zusätzliche Hilfe gebrauchen könnte. Ich soll morgen Mittag einen Lunch liefern, eine ziemlich große Veranstaltung, aber zurzeit fehlen mir noch mehr als zweihundert Sandwichhappen und überhaupt. Könntest du kurzfristig vorbeikommen und helfen?«
    »Heute Abend?« Ich warf einen Blick auf die Uhr am Herd. Fünf nach sieben. Normalerweise ging ich um diese Zeit nach oben, checkte meine E-Mails , putzte mir die Zähne, reinigte sie mit Zahnseide und las noch ein paar Seiten in dem Buch mit den Übungsfragen für die College-Aufnahmeprüfung, damit ich kein allzu schlechtes Gewissenhatte, wenn ich es mir anschließend vor dem Fernseher bequem machte, bis ich müde genug war, um einzuschlafen.
    »Ich weiß, es ist kurzfristig, aber die anderen haben alle schon was vor«, sagte Delia. Sie musste zwischendurch den Wasserhahn aufgedreht haben, denn ich hörte Plätschern im Hintergrund. »Ist kein Problem, wenn du nicht kannst, aber ich wollte zumindest fragen. Zum Glück hatte ich die Visitenkarte deiner Mutter noch, deshalb dachte ich mir, ich rufe mal an und versuche dich herzulocken.«
    »Ja, also«, begann ich und wollte schon Nein sagen. Nein, tut mir Leid, es geht nicht   – die Worte lauerten auf meiner Zungenspitze, meine Lippen formten sie, ich konnte es regelrecht fühlen. Aber dann sah ich mich in unserer stillen, blitzsauberen Küche um. Ein Sommerabend. Ein früher Sommerabend. Das war mal meine Lieblingstageszeit zu meiner Lieblingsjahreszeit gewesen: früher Sommerabend. Wenn die Glühwürmchen allmählich zum Vorschein kamen und die Luft sachte abkühlte. Wie hatte ich das bloß vergessen können?
    ». . . ich weiß zwar nicht, warum du deine kostbare Zeit dafür opfern solltest, bis zum Ellbogen in Brunnenkresse und Frischkäse herumzumanschen.« Delias Stimme holte mich in die Wirklichkeit zurück. »Außer natürlich, du hast sonst nichts Besseres vor.«
    »Hab ich nicht«, antwortete ich zu meiner eigenen Verblüffung. »Zumindest nichts, was ich nicht verschieben könnte.«
    »Wirklich? Das ist toll. Wunderbar. Du bist ein Engel. Ohne dich wäre ich aufgeschmissen. Dann beschreibe ich dir mal, wie du herfindest. Ist ein bisschen außerhalb, aber ich bezahle dir die Fahrzeit natürlich mit, das heißt, ab jetzt tickt die Uhr.«
    Ich nahm einen Stift aus dem Glas, das neben dem Telefon stand, zog den Notizblock näher an mich heran   – und verspürte plötzlich einen leichten Stich. Ob das wohl gutgehen würde? Wenn ich mich so ablenken ließ, meine Routine unterbrach? Andererseits ging es bloß um einen Abend unter vielen, um eine kleine Abweichung von meinem sonstigen Tagesablauf. Warum sollte ich es nicht ausprobieren und einfach mal abwarten, was sich daraus entwickelte? Wahrscheinlich schwirrten draußen längst die Glühwürmchen herum. Vielleicht hatte ich ja nicht nur eine Jahres- oder Tageszeit vergessen, sondern eine ganze Welt. Doch wenn ich diese Welt nicht betrat, würde ich es nie herausfinden. Also los.
     
    Delias Wegbeschreibung war wie Delia selbst: zum Teil glasklar, dann wieder total chaotisch. Am Anfang hatte ich jedenfalls keinerlei Probleme. Ich fuhr auf der Hauptstraße einmal quer durch die Stadt, dann jenseits der Stadtgrenze vorbei an Neubausiedlungen, Bürogebäuden, Bauernhöfen, bis ich schließlich bei Feldern und Weideland inklusive Kühen landete. Von genau dieser Straße aus hätte ich zu Delia abbiegen müssen, hatte die Abzweigung allerdings irgendwie verpasst, also entweder ihre Beschreibung nicht richtig gedeutet oder mich verfahren. Oder beides. Die bewusste Abzweigung war einfach nicht da, Punkt   – egal wie oft ich die Strecke, wo sie sich meiner Meinung nach befinden musste, entlangfuhr. Hin, wenden, wieder zurück. Was zu allem Überfluss irgendwann ziemlich peinlich wurde, weil ich jedes Mal an einem Obst- und Gemüsestand am Straßenrand vorbeikam; auf dem Schild stand TOMATEN BLUMEN KUCHEN & PASTETEN   – ALLES

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