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Zwischen jetzt und immer

Zwischen jetzt und immer

Titel: Zwischen jetzt und immer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Dessen
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Meine Mutter hielt sich deshalb lieber im vorderen Schlafzimmer auf, das ein großes Fenster hatte. Außerdem fand sie den Elchkopf gruselig. Was sie wohl gerade dachte? Es war bestimmt schwer für sie. Für mich ebenfalls. Doch im Stillen klammerte ich mich an das, was Kristy gestern Abend zu mir gesagt hatte, nämlich dass man keine Angst haben sollte. Und daran, was ich verpasst hätte, wenn ich in dem Moment, als ich Angst bekam, nach Hause gefahren wäre.
    »Allerdings habe ich mich mit Oberlichtern noch nie beschäftigt«, meinte Caroline. »Deshalb habe ich keine Ahnung, wie viel man investieren muss oder ob sich der Aufwand überhaupt lohnt.«
    »Kommt auf den Hersteller an.« Die Augen meiner Mutter waren fest auf den Bildschirm gerichtet. »Und auf die Größe. Die Preise variieren stark.«
    Eines musste ich meiner Schwester lassen: Bei aller Hartnäckigkeit, allem Drängen wusste sie genau, wie sie es anstellen musste, um das Thema einigermaßen erträglich zu verpacken. Sie kombinierte einfach einen schwierigen Schritt mit einem leichten; zeigte uns beispielsweise ein Bild, von dem sie ahnte, dass meiner Mutter bei dem Anblickschwer ums Herz werden würde, und verband es gleichzeitig mit einer Frage, bei der sie sich auf sicherem Terrain bewegte: ihrer Arbeit.
    In der Art ging es die nächste halbe Stunde weiter, während Caroline uns behutsam durchs Ferienhaus führte, im wahrsten Sinne des Wortes ein Zimmer nach dem anderen mit uns durchging. Am Anfang musste ich ständig einen neuen Kloß im Hals runterschlucken, zum Beispiel wenn ich den Blick aufs Meer von der Veranda aus sah oder das Zimmer mit den Etagenbetten, wo ich immer geschlafen hatte. Es machte mich so fertig, dass ich kaum etwas anderes wahrnahm. Am schlimmsten waren die Bilder vom Elternschlafzimmer, denn an der Wand neben der Tür stand noch ein Paar alter Laufschuhe meines Vaters.
    Doch jedes Mal wenn die Erinnerungen über unseren Köpfen zusammenzuschlagen drohten, holte Caroline uns an die Oberfläche zurück. Langsam, vorsichtig, beharrlich. Jedes Mal wenn uns vor lauter Trauer die Luft wegblieb, jedes Mal wenn ich glaubte, ich würde diese Prozedur keine Sekunde länger aushalten, warf sie eine Frage in den Raum, irgendetwas Konkretes, Rationales, an dem man sich festhalten konnte. Was haltet ihr davon, fragte sie beispielsweise, wenn wir das Fenster im Bad durch Glasbausteine ersetzen? Oder: Seht ihr, wie wellig das Linoleum in der Küche geworden ist? Ich habe da Fliesen in einem tollen Blau entdeckt, mit denen wir es ersetzen könnten. Oder würden Fliesen zu teuer? Und jedes Mal wenn meine Mutter sachkundig antworten konnte, hielt sie sich an der Antwort fest wie an einem Rettungsring auf hoher, schwerer See. Sobald sie wieder einigermaßen zu Atem gekommen war, ging’s weiter.
    Als die Vorführung vorbei war, überließ ich die beiden sich selbst sowie einer angeregten Diskussion über Oberlichter,um meine Wäsche aus dem Trockner zu holen, weil ich mir noch was für meinen nächsten Arbeitstag in der Bibliothek bügeln wollte. Ich war fast fertig, da erschien meine Mutter in der Waschküche und lehnte sich mit verschränkten Armen an den Türrahmen.
    »Sieht so aus, als hätte deine Schwester ein neues Projekt gefunden«, meinte sie.
    »Wo ist sie?«
    »Bei ihrem Wagen. Sie hat ein paar Stoff- und Farbmuster mitgebracht, die sie mir unbedingt zeigen will.« Seufzend strich meine Mutter mit einer Hand den Türrahmen entlang. »Anscheinend sind Polsterbezüge aus Kord derzeit der neueste Schrei.«
    Ich lächelte, während ich eine Falte in der Hose glättete, die ich gerade in der Hand hielt. »Sie kennt sich wirklich aus auf dem Gebiet«, sagte ich. »Denk doch mal dran, was sie aus ihrem eigenen Haus gemacht hat. Und aus dem Ferienhaus in den Bergen. Ist doch gut geworden, findest du nicht?«
    »Ja, schon.« Schweigend sah sie einen Augenblick lang zu, wie ich ein T-Shirt faltete und es in den Korb legte, der neben mir auf dem Boden stand. »Trotzdem . . . es ist schon eine Menge Geld und Arbeit, um sie in ein so altes Haus zu investieren. Ich kann mir nicht helfen, aber das geht mir die ganze Zeit im Kopf herum. Dein Vater hat immer gesagt, es sei nur noch eine Frage von ein paar Jahren, bis die Grundmauern wegsacken würden. Ich bin mir einfach unsicher, ob das Ganze die Mühe und den Aufwand, den Caroline betreibt, tatsächlich lohnt.«
    Ich holte Kristys Jeans aus dem Trockner und faltete sie zusammen. Das Herz auf dem

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