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Zwischen jetzt und immer

Zwischen jetzt und immer

Titel: Zwischen jetzt und immer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Dessen
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über die Lichtung auf mich zukam. Ich blieb hocken, wo ich war, beobachtete unauffällig, wie er langsam auf mich zuschlenderte, und fragte mich plötzlich, wie es wohl wäre, wenn er meinetwegen käme. Wenn er auf mich zuliefe, um
mich
zu sehen, um mit
mir
zusammen zu sein. Es war ganz anders als bei Jason; wenn Jason auf mich zugekommen war, stieg in mir jedes Mal so was wie ein Gefühl von Sicherheit auf. Sein Anblick half mir mich zusammenzureißen. Bei Wes passierte exakt das Gegenteil. Ein Blick, und ich hatte keine Ahnung mehr, wer oder wo ich war oder was ich tat.
    »Hallo«, sagte er, als er schon ziemlich dicht bei mir war. Ich tat so, als wäre ich überrascht, ihn plötzlich vor mir zu sehen, um mich innerlich vor dem größten Chaos zu bewahren, was zunächst auch ganz gut klappte. Bis er sich neben mich setzte. Prompt fühlte ich mich wieder, als würde irgendetwas in mir gelöst, gelockert, in Unordnung gebracht. Er stellte die Rohre ab. »Wo sind die anderen?«
    »Bierfass.« Ich deutete mit dem Kinn in die betreffende Richtung.
    »Alles klar.«
    Apropos Ewigkeit: Die Minute des Schweigens, die nun verging, dehnte sich endlos. Vielleicht sogar noch etwas länger. Vor meinem inneren Auge sah ich plötzlich die Wanduhren in meiner Schule, sah die allerletzten Sekunden der Stunde vor sich hin ticken, den Moment, in dem der Minutenzeiger zittert, als hielte er es kaum noch aus, nicht endlich auf die Zwölf zu springen. Sag was, dachte ich und warf Wes einen verstohlenen Seitenblick zu. Anders als ich schien er die Lücke in der Zeit kaum als solche wahrzunehmen, sondern beobachtete seelenruhig die Leute auf derLichtung. Seine Arme hingen locker seitlich am Körper herab. Nicht zum ersten Mal fiel mir die Tätowierung auf seinem Oberarm auf, deren Spitze unter dem Ärmel seines T-Shirts hervorschaute. Kristy hatte gesagt, ich solle leben   – was auch immer das bedeutete, schließlich gab es eine gewaltige Bandbreite von Leben. Jedenfalls hallten ihre Worte noch in mir nach. Also gut, dachte ich, warum nicht?
    »Was ist das?« Während ich die Worte noch zwang, meinen Mund zu verlassen, merkte ich, dass ich ihn ansah, nicht die Tätowierung. Meine Frage konnte sich also auf alles Mögliche beziehen. Wes hob prompt fragend die Augenbrauen. Meine Güte   – wurde ich etwa rot? So schnell ich konnte, fügte ich hinzu: »Ich meine deine Tätowierung. Ich konnte bisher nie richtig erkennen, was sie darstellen soll. Also, was ist das?«
    Ein ganzer Satz. Eine vollständige Frage. Wow!
    Ich hatte plötzlich das nicht sehr angenehme Gefühl, auf gleicher Stufe zu stehen wie Helen Keller, nachdem sie es endlich geschafft hatte, das Wort W-A-S-S-E-R in Zeichensprache auszudrücken.
    Wes schob seinen Ärmel etwas weiter hoch. »Ach, das ist bloß dieses kleine Symbol. Als du das erste Mal zu Delia rausgekommen bist, hast du doch die Skulptur gesehen?«
    Ich muss wohl genickt haben, aber ehrlich gesagt sah ich jetzt nichts anderes mehr als die schwarzen Linien der Tätowierung. Das Herz in der Handfläche. Dieses Herz war natürlich kleiner und von einem kreisförmigen Muster eingerahmt, das an die Zeichen auf Totempfählen erinnerte. Aber ansonsten war es genau das gleiche Symbol: offene Handfläche, ausgestreckte Finger, rotes Herz in der Mitte.
    »Ja«, antwortete ich. Und wie schon beim ersten Mal, alsich die Herzhand gesehen hatte, überkam mich das Gefühl, dieses Zeichen zu kennen; als würde etwas leicht drängend an meinem Unterbewusstsein zupfen, was auch immer. Seltsam. »Hat es irgendeine bestimmte Bedeutung?«
    »Schon.« Er blickte auf seinen Arm hinunter. »So was in der Art hat meine Mutter immer für mich gezeichnet, als ich klein war.«
    »Wirklich?«
    »Ja. Für sie waren Herz und Hand eine Einheit. Davon war sie aus irgendeinem Grund fest überzeugt.« Kurz berührte er das rote Herz mit seinem Finger, dann sah er mich an. »Nach dem Motto, Gefühl und Handeln sind miteinander verbunden, das eine kann es ohne das andere nicht geben. An so Zeug haben die Hippies geglaubt und ihr gefiel das. Sie stand auf solche Ideen.«
    »Mir gefällt’s auch«, sagte ich. »Ich meine, die Vorstellung dahinter. Klingt sinnvoll, finde ich.«
    Wieder senkte er leicht den Kopf, um das Tattoo zu betrachten. »Nach ihrem Tod fing ich an, beim Schweißen zu experimentieren, und habe mir verschiedene Rahmen ausgedacht. Diese Herzhand hat zum Beispiel ein Kreismuster drum rum, die bei uns neben der Straße den

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